Was, wenn Beziehung keine pädagogische Nebenbedingung, sondern die systemische Grundstruktur von Bildung wäre? Diese Frage stellt sich mit aller Schärfe, wenn man die Logiken von Steuerung, Digitalisierung und Transformation nicht getrennt voneinander, sondern zusammen denkt.
Zwar sprechen aktuelle Strategiepapiere zur Digitalisierung im Bildungsbereich vom sozialen Potenzial digitaler Medien, von der Notwendigkeit zur Kooperation, von Schulentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe. Aber das Verhältnis zur Beziehung bleibt ambivalent: Sie wird anerkannt, aber nicht konsequent durchdekliniert. Sie ist implizit da, wo Partizipation erwähnt wird. Sie wird als Human Skill anerkannt, als ein Zeichen pädagogischer Qualität, aber nicht als systemrelevantes Strukturmerkmal. Beziehung ist etwas Gutes – aber nichts, das den Rahmen verändern würde.
Für mich ist Beziehung kein Nice-to-have, sondern konstitutives Prinzip. Zukunftsorientiertes Lernen ist inhärent relational geprägt. Wer Spielräume für Bildung gestalten will, braucht Vertrauen. Wer Mensch-Technologie-Interaktion als Teamwork betrachtet, muss Beziehung neu denken – nicht nur zwischen Menschen, sondern auch in Bezug auf die Technologie, die es uns im Rahmen dieser Partnerschaft ermöglicht, wieder menschlicher zu werden. Und wer Lernen als Prozess über die gesamte Lebensspanne hinweg ernst nimmt, muss sich auf dauerhafte, tragfähige Beziehungskulturen einlassen – in Schule, Hochschule, Betrieb, Zivilgesellschaft und zwischen ihnen.
Beziehung in diesem Sinne meint mehr als Nähe oder Empathie. Sie meint Anerkennung. Sie meint das Aushalten von Differenz. Sie meint die Bereitschaft, andere an der Mitgestaltung von Welt teilhaben zu lassen – nicht nur pro forma, sondern wirklich. In der systemischen Gegenerzählung zur Bildungstransformation ist Veränderung daher kein Output pädagogischer Maßnahmen, sondern das Resultat eines Beziehungsgeflechts, das Entwicklung ermöglicht.
Das zeigt sich besonders dort, wo Transformationsprozesse als parallele Wirkungsdynamiken gedacht werden – in Spannungsfeldern wie Ent-Täuschung, Desorientierung, Revision oder Exploration (mehr dazu: The Future:Project). Diese Prozesse sind nur dann wirksam, wenn sie in einem Resonanzraum stattfinden. In einem Raum, in dem Fehler kein Versagen, sondern Suchbewegung sind. In dem Kontrollverlust nicht als Risiko, sondern als Erkenntnismöglichkeit begriffen wird. Und in dem Lernende nicht nur partizipieren, sondern mitgestalten – auf Augenhöhe, mit echter Verantwortung.
Gerade hier liegt ein blinder Fleck vieler systemischer Ansätze: Die Rolle der Lernenden bleibt vage. Sie sind Adressat:innen, Betroffene, manchmal auch „Partizipierende“. Doch selten wird ihnen echte Gestaltungsmacht zugeschrieben – wie das beispielsweise das Sun Model of Co-Agency tut. Beziehung wird nicht als wechselseitig gedacht, sondern bleibt asymmetrisch: Steuernde planen für Beteiligte. Doch echte Beziehung bedeutet: Wir gestalten gemeinsam. Nicht die einen für die anderen. Sondern alle miteinander.
Diese Erkenntnis hat weitreichende Folgen – für Schulentwicklung, Didaktik, Lernkultur, aber auch für politische Prozesse und Governance. Wenn Beziehung tatsächlich als Struktur gedacht wird, dann müssen wir Systeme schaffen, die nicht nur Prozesse und Rollen klären, sondern auch Beziehung ermöglichen: über Zeit, über Ressourcen, über Raumgestaltung, über Machtverhältnisse.
Was wäre, wenn wir Bildung als Möglichkeitsraum der Beziehung denken würden? Als Raum, in dem sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Erwartungen und Visionen begegnen – und gemeinsam an einer lebenswerten Zukunft arbeiten? Diese Perspektive stellt nicht das Digitale, egal in welcher Form, in den Vordergrund, sondern skizziert neue Beziehungskonstellationen: zwischen Lernenden, Eltern, Lernbegleitenden, Unternehmen und gesellschaftlichen Akteur:innen – kurz: zwischen Menschen. Beziehungen, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Vertrauen basieren. Nicht auf Bewertung, sondern auf gemeinsamer Reflexion. Nicht auf Hierarchie, sondern auf geteiltem Gestaltungswillen über Altersgrenzen hinweg.
Diese Vision steht im Widerspruch zu einer Bildung, die auf standardisierte Prüfungen, Zielvereinbarungen und Output-Orientierung setzt, aber auch zu einer Bildung, die zwar davon etwas Abstand nimmt, jedoch nach wie vor nicht auf Augenhöhe mit jungen Menschen gehen will. Dennoch ist sie anschlussfähig an das, was viele aktuelle Strategien andeuten – wenn man es radikaler zu Ende denkt und riskiert, disruptiv zu wirken.
Eine systematische Gegenerzählung zur Bildungstransformation muss Beziehung nicht nur benennen, sondern institutionalisieren. Sie muss Räume für Begegnung schaffen, Rituale der Verständigung etablieren, Formate des Zuhörens und Aushandelns ermöglichen. Und sie muss klar machen: Beziehung ist keine emotionale Zusatzleistung. Sie ist das Betriebssystem transformativer Bildung.
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- Cover Future:Guide Bildung: Jr Korpa | Unsplash