Demokratische Gestaltung braucht Gegenerzählung – Bildung als zukunftsoffene Praxis

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Bildung ist kein neutraler Raum. Sie ist immer politisch – nicht im parteipolitischen Sinn, sondern als Praxis gesellschaftlicher Selbstvergewisserung. Bildung entscheidet mit darüber, wie wir miteinander leben wollen, wer Zugang zu Ressourcen hat, wessen Perspektiven sichtbar werden und welche Zukünfte wir überhaupt für möglich halten. Wer Bildung gestaltet, gestaltet Gesellschaft – und wer Bildung transformieren will, braucht mehr als Programme und Indikatoren. Es braucht eine Haltung zur Welt und muss alle Personen beteiligen.

Strategien wie der Navigator Bildung Digitalisierung verweisen häufig auf gesellschaftliche Entwicklungen – etwa im Zuge der Digitalisierung und Pluralisierung – und fokussieren auf Handlungsfelder wie Medienbildung, Qualifizierung und Steuerung. Dabei bleibt offen, wie tiefgreifend die Transformation gedacht wird – und welche Verantwortung Bildung dabei gesellschaftlich übernehmen soll.

Hier beginnt der Raum für eine Gegenerzählung: eine Bildung, die nicht nur auf Krisen reagiert, sondern Zukunft aktiv mitgestaltet. Nicht als Anpassung an das Bestehende, sondern als Öffnung für das Noch-nicht. Eine solche Gegenerzählung versteht sich nicht als Widerstand gegen bestehende Strategien – sondern als Erweiterung des Möglichkeitsraums. Sie widerspricht dem Navigator nicht in der Analyse, wohl aber in ihrer Zielrichtung: Während der Navigator BD von Bildung als gestaltbarem Handlungsfeld ausgeht, beschreibt die Gegenerzählung Bildung als kulturelle Suchbewegung. Nicht als Reaktion, sondern als kollektive Imagination. Nicht als Abbildung des Wandels, sondern als Mitgestaltung einer Zukunft, die noch nicht sichtbar ist. Es geht nicht nur um das Wie der Transformation, sondern um das Wozu. Wer entscheidet, wie gelernt wird? Wessen Wirklichkeiten prägen das Bild von Bildung? Und welche anderen Zukünfte wären denkbar, wenn wir uns erlauben, über Verwertbarkeit und Machbarkeit hinaus zu denken?

Diese Fragen sind keine Zugabe zu klassischen Bildungszielen – sie sind grundlegend für eine demokratische Bildungskultur. Wenn Transformation gelingen soll, müssen wir sie auch als kulturelle, ethische und soziale Bewegung verstehen. Sie betrifft nicht nur Methoden und Medien, sondern das normative Fundament unserer Bildungsordnung. Die Idee von Bildung als öffentlichem Möglichkeitsraum verlangt, dass wir nicht nur Standards umsetzen, sondern Verantwortung teilen.

Ein wichtiges Instrument dafür ist die bewusste Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Spannungsfeldern. Wenn Megatrends wie Digitalisierung, Individualisierung und Automatisierung unsere Wirklichkeit prägen, dann brauchen wir kein bloßes Nachzeichnen dieser Trends, sondern eine Haltung, die Gegengewichte schafft: Resonanz statt Dauerverfügbarkeit. Sinn statt Skalierung. Beziehungslernen und Personalisierung statt Standardisierung.

Solche Gegentrends sind keine Verweigerung des Fortschritts. Sie sind eine Einladung zur Differenzierung. Denn Demokratie braucht Ambiguitätskompetenz – die Fähigkeit, Widersprüche nicht sofort aufzulösen, sondern gemeinsam zu verhandeln. Aus dieser Reibung von Trend und Gegentrend entsteht letztendlich die Zukunft (s.a. The Future:Project). Und deshalb braucht Demokratie eine Bildung, die nicht vorgibt, was richtig ist, sondern Menschen ermutigt, Verantwortung zu übernehmen, sich einzubringen und Irritationen auszuhalten und miteinander zu verhandeln.

Diese Form der Bildung ist unbequem. Sie passt nicht in Effizienztabellen. Sie lässt sich nicht standardisieren. Aber sie ist notwendig, wenn wir nicht nur Systeme verbessern, sondern Zukunft ermöglichen wollen. Wenn wir Bildung nicht als Verwaltung von Wissen, sondern als Einladung zur Mitgestaltung der Zukunft verstehen – mit offenem Ausgang, aber klarem Anspruch.

Eine solche Bildung ist kein Expert:innenprojekt. Sie braucht das kollektive Narrativ, die Vielfalt der Perspektiven, die Bereitschaft zum Dialog. Auch hier zeigen sich Spannungen zu bestehenden Konzepten: Während der Navigator BD Beteiligung vorrangig als Adressierung von Zielgruppen beschreibt – etwa durch Empowerment oder partizipative Formate – denkt die Gegenerzählung Beteiligung radikaler: als geteilte Verantwortung für den Möglichkeitsraum Bildung. Sie fragt nicht nur, wie Menschen eingebunden werden – sondern auch, welche Macht sie haben, selbst zu gestalten. Das verändert nicht nur Prozesse, sondern auch das Verständnis von Steuerung, Qualität und Wirkung. Demokratische Gestaltung beginnt nicht mit der Lösung, sondern mit der Frage. Und diese Frage muss an alle gehen: an Lernende, Eltern, Lernbegleitende, Unternehmen, Politik, Zivilgesellschaft – kurz: Menschen allen Alters.

Was wir brauchen, ist keine Bildung, die anschlussfähig ist – sondern eine, die Anschluss bildet. Keine, die passfähig macht – sondern teilhabe- und gestaltungsfähig. Keine, die reagiert – sondern eine, die für alle Menschen Räume schafft für das, was wir gemeinsam noch nicht kennen.

Dafür reichen Strategien nicht aus. Es braucht die Kraft der Gegenerzählung. Und den Mut zur Haltung.

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Bildquellen

  • Cover Future:Guide Bildung: Jr Korpa | Unsplash
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