„Digitale Medien machen abhängig und dumm.“

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Der Vorwurf der Mediensucht ist heutzutage schnell gemacht. Denn schließlich sind in Form von mobilen Endgeräten und Computern inzwischen omnipräsent und Teil des normalen Alltags. Die Tatsache, dass Jugendliche „ständig aufs Smartphone starren“, „nicht mehr miteinander reden“ und „ohne Smartphone schon gar nicht mehr leben können,“ wird gern als Beleg einer Mediensucht herangezogen. Dass Jugendliche Medien per Smartphone nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren und zusätzlich so auch kommunizieren, wird gern ignoriert. Auch hört man immer wieder, dass die Gesellschaft durch die Allgegenwart der Medien im Alltag junger Menschen damit rechnen müsse, in eine düstere Zukunft zu blicken, denn ihr stetiger Medienkonsum ließe sie verdummen. Doch auch wenn Abhängigkeit natürlich möglich ist, so ist die Angst davor in den meisten Fällen unbegründet. Die „digitale Demenz“ ist in vielen Fällen ein Hirngespinst, ausgelöst von einer „digitalen Hysterie“.

Spätestens seit diversen Auftritten von Prof. Manfred Spitzer in mehr oder minder seriösen Talkshows ist der Begriff der „digitalen Demenz“ in aller Munde und wird gern in einem Atemzug mit der Abhängigkeit von digitalen Medien genannt. Prof. Spitzer zieht in diesem Kontext indirekt Nutzen daraus, dass sein Publikum – tendenziell wenig medienaffine Eltern und Pädagogen – über so wenig Medienkompetenz verfügt, dass die in einem von der Gesellschaft anerkannten und allseits beliebten Massenmedium geäußerte Meinung eines einzelnen Hirnforschers, der zudem seine Bücher verkaufen will, für bare Münze genommen wird, ohne dass die geäußerten Behauptungen mithilfe weiterer Quellen verifiziert werden.

Hinsichtlich der Frage, ob Medienkonsum dumm macht, muss man natürlich zugeben, dass übermäßiger Konsum von sinnfreien Inhalten selbstverständlich nicht für einen Lernzuwachs im schulischen Sinn sorgen kann. Jedoch kann auch der fehlende Umgang mit digitalen Medien im klassischen Sinne dumm machen, z.B. wenn man sich deshalb nicht vor Gefahren im Netz schützen kann und von anderen Menschen sozusagen für dumm verkauft wird. Oder aber weil man nicht fähig ist, in einer partizipativen Demokratie mit der digitalen Transformation Schritt zu halten und die Zukunft aktiv mitzugestalten.

Auch Georg Milzner, Autor von „Digitale Hysterie“, verneinte bei einem Vortrag im Februar 2017 die Frage danach, ob Medienkonsum dumm mache. Er wies darauf hin, dass Studien zufolge der durchschnittliche IQ der Menschen sogar stetig steige, weil das Wissen für alle gesellschaftlichen Schichten besser zugänglich sei und man auch besonderes Wissen brauche, um in der digitalen Welt zu navigieren. Kinder verfügen laut Milzner heutzutage zwar nicht über einen niedrigeren IQ, jedoch über ein anderes Intelligenzprofil, weil sie Synergieeffekte nutzen und Informationen aus verschiedenen Quellen verknüpfen, sodass am Ende ein neues Produkt entstehe.

Ein reflektierter, sinnvoller und selbstbestimmter Medienkonsum kann also durchaus dazu beitragen, dass man etwas lernt, was als bildungsrelevant angesehen werden kann. Und genau deshalb muss Medienbildung – sowohl das Lernen mit als auch das Lernen über Medien – Teil des schulischen Bildungsauftrags sein. Wenn dieser Lernzuwachs dann noch – entsprechend den Leitgedanken des Bildungsplans 2016 in den modernen Fremdsprachen beispielsweise – in einem neuen Medienprodukt, z.B. einem Erklärvideo, einem digitalen Poster oder einer interaktiven 3D-Ausstellung, Niederschlag findet, dann kann die Frage danach, ob Medienkonsum per se dumm macht, ganz klar verneint werden. Wäre dies der Fall, müsste man daraus schließlich auch folgern, dass auch die Leidenschaft fürs Lesen dumm macht – denn auch ein Buch, egal ob in digitaler oder analoger Form, ist nichts anderes als ein Medium. Die Angst, dass man durch übermäßiges Lesen Schaden davonträgt, wurde jedoch nach einer ersten Phase der Ablehnung von Romanen Ende des 18. Jahrhunderts nie wieder laut, vielmehr gilt jemand, der viel liest, als intelligent und gebildet. Auch jenseits des klassischen Bildungsbegriffs kann ein Lernprozess durch Medien stattfinden: wenn beispielsweise ein Jugendlicher viel Zeit damit verbringt, Computerspiele zu spielen, die strategisches Denken fördern, so lernt er auch dadurch etwas hinzu – nicht primär für die Schule, aber fürs Leben. Es kommt also immer darauf an, in was man seine Zeit investiert und nicht in welches Medium.

Bezüglich der Frage, ob man von digitalen Medien abhängig werden kann, muss zuerst einmal geklärt werden, dass weder ein Konsens darüber herrscht, dass es überhaupt eine Smartphone- oder Medien-Sucht gibt, noch klar ist, wie diese gegebenenfalls zu definieren wäre.

Eine einheitliche Begriffsbestimmung gibt es bislang nicht. Da ist die Rede von Sucht, Abhängigkeit oder pathologischer, exzessiver bzw. problematischer Nutzung. […] Auch bezüglich der Merkmale dieser Abhängigkeiten streiten sich die Experten. So herrscht Uneinigkeit über die Zahl der Betroffenen und darüber, ab wann genau eine Person als „abhängig“ gilt. Bisher sind weder Internet-, noch Handy- oder Computerspielabhängigkeit offiziell als psychische Erkrankung anerkannt. (Digitale Abhängigkeit – Tipps für Eltern, Klicksafe, 2018)

Eine Sucht liegt im Allgemeinen dann vor, wenn es zu einem Kontrollverlust und bei Entzug des Suchtmittels zu Entzugserscheinungen kommt – also zum Beispiel körperlichen Entzugserscheinungen (Zittern) oder psychischen Entzugserscheinungen (Aggressivität).

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Quelle) sollte die Diagnose Abhängigkeit nur gestellt werden, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien während des letzten Jahres vorhanden waren:

  1. Starker Konsumdrang.
  2. Kontrollverlust.
  3. Toleranzentwicklung.
  4. Körperliche Entzugssymptome.
  5. Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Konsums.
  6. Anhaltender Konsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.

2018 wurde zwar die Videospielesucht von der WHO als Sucht anerkannt, jedoch spricht auch sie nicht von einer Mediensucht. Videospiele sind ja nur ein kleiner Teil des Medienbereichs.

Die von Eltern häufig zitierte Sorge, das eigene Kind sei z.B. Smartphone-süchtig, kann zwar berechtigt sein, aber in den meisten Fällen stellt es sich nach Rücksprache mit einem Fachmann schnell heraus, dass das, was Eltern als Sucht betrachten, lediglich auf der Beobachtung beruht, dass das Kind zunehmend Zeit in der digitalen Welt, also mit dem Smartphone in der Hand, verbringt, anstatt sich mit Freunden in der „realen“ Welt zu treffen oder Sport zu treiben. Doch vergessen die besorgten Eltern dabei, dass die Welt sich in den letzten zehn Jahren drastisch verändert hat und Kinder schon längst nicht mehr trennen zwischen digitaler und realer Welt – denn die digitale Welt ist Teil ihrer Lebensrealität und auch dort treffen sie ihre Freunde.

Diesbezüglich machte Psychologe Georg Milzner in seinem Vortrag bei der Auftaktveranstaltung der Medienkompetenztage im Februar 2017  darauf aufmerksam, dass alles im grünen Bereich sei, solange die Mediennutzung noch mit einer Begeisterung einhergehe, die zur Kommunikation während oder nach dem Medienkonsum führe. Erst wenn es tatsächlich zur Isolation und Vernachlässigung anderer Lebensbereiche komme, sei es an der Zeit, den heutzutage inflationär gebrauchten Begriff der Internetsucht oder Mediensucht in Betracht zu ziehen. Auch wenn die digitale Welt für viele Erwachsene fremd sei und bedrohlich wirke, solle man Offenheit gegenüber dem Fremden walten lassen und sich diese Welt von den Jugendlichen einmal zeigen lassen. Dann werde man schnell feststellen, dass die Bewegung in dieser Welt weitreichende Kompetenzen braucht, die ein Erwachsener aufgrund seiner längeren Sozialisation erst wieder erlernen muss.

Diesen Ansatz verfolgt auch Fabian Karg, wenn er unter dem Motto „Was machst Du da eigentlich?!“ regelmäßig bei Vorträgen und Elternabenden auf die Bedeutung der Kommunikation über Medien zwischen Jung und Alt hinweist.


In einem Artikel von 2013 im Time Magazin, der den Titel „The Me Me Me Generation“ trägt, beschreibt der Journalist Joel Stein wie die heutige Jugend, die u.a. durch ihre Mediennutzung sehr narzisstisch wirkt, doch eigentlich nur auf ihre Umwelt reagiert und sich ihr anpasst:

“millennials‘ self-involvement is more a continuation of a trend than a revolutionary break from previous generations. They’re not a new species; they’ve just mutated to adapt to their environment.

Der promovierte Psychologe und Spiegel-Kolumnist Christian Stöcker schreibt in einem Beitrag vom Oktober 2015 ganz richtig:

Mobiles Internet für den Normalanwender gibt es also seit weniger als acht Jahren. In diesen acht Jahren hat es unser Sozialverhalten und unseren Alltag sichtbar umgekrempelt. Sinnlose Streitgespräche über Fakten („Gibt es unterschiedliche Versionen der 10 Gebote?“) konnten sich früher lange hinziehen, heute werden sie mit einmal Googeln beendet. In U-Bahnen starren die Leute nicht mehr auf unhandliche Zeitungen, sondern auf handliche Telefone. Und viele von uns haben elementare Höflichkeitsregeln augenscheinlich vergessen. (Der Spiegel)

Wenn man dies mit der Tatsache verknüpft, dass laut der JIM-Studie 2020 27% der Smartphone-Nutzung auf die Kommunikation mit Freunden entfällt, dann erkennt man recht schnell, dass sich zwar die Medienlandschaft verändert, die Grundbedürfnisse der Jugendlichen jedoch nicht. Diese werden heute nur mit anderen Mitteln gestillt: was heute die stundenlange, für Erwachsene besorgniserregende Beschäftigung mit dem Smartphone ist, ist im Prinzip nichts anderes als die stundenlangen Telefonorgien der Kinder der 90er. Beiden gemein sind die Beunruhigung der Eltern der jeweiligen Generation und die potenziell daraus resultierenden lautstarken Auseinandersetzungen in der Familie.

Zudem gibt es laut Martin Lorber, dem Jugendschutzbeauftragten des Spieleherstellers Electronic Arts, in Deutschland eine lange Tradition, neue Medien zu verteufeln.

Ende des 18. Jahrhunderts wurden Romane als wertlos erachtet und vor einer Lesesucht der Frauen gewarnt. Auch Radio und Fernsehen hatten zunächst einen schweren Stand. Doch bis heute fehlen eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass Gewaltdarstellungen aggressiv machen oder dass Fans von Killerspielen häufiger als Nicht-Spieler als Gewaltverbrecher oder gar Amokläufer enden. (Die Welt)

Und genauso wenig ist wissenschaftlich eindeutig bewiesen, dass eine eher undifferenziert wahrgenommene intensive Beschäftigung mit dem Smartphone Zeichen einer Abhängigkeit ist.

Was bei der Diskussion um die Smartphone-Sucht der jungen Generation allerdings leider in der Regel unberücksichtigt bleibt, ist eine weitere Variable, die heutzutage nicht vernachlässigt werden darf, nämlich die (mangelhafte) Vorbildfunktion der Eltern. So besagen die Ergebnisse einer vom JFF-Institut für Medienbildung in Auftrag gegebene Studie zum Thema „Mobile Medien in der Familie“

[…] dass aus Sicht der Fachkräfte viele Eltern nicht wahrnehmen, welchen Anteil sie am Nutzungsverhalten ihres Kindes und an der Dynamik im Familienalltag haben. Sie sehen sich nicht als Vorbild oder messen dem keine Bedeutung zu. Konflikte entzünden sich u. a. dann, wenn Kinder das uneingeschränkte und unbegrenzte Nutzungsverhalten ihrer Eltern erleben und Gleiches für sich einfordern.“ (Wagner, Ulrike; Eggert, Susanne; Schubert, Gisela (2016). MoFam – Mobile Medien in der Familie. Kurzfassung der Studie, S. 9.)

Weiterhin wird beobachtet, dass die Dauer der Nutzung für Eltern meist problematischer ist als der Inhalt der Mediennutzung.

Auch Psychologe und Autor Georg Milzner bestätigt diese Aussagen. Sucht, so Milzner, habe nichts mit der Nutzungsdauer eines Mediums zu tun und ein Suchtverdacht basiere oft ganz einfach darauf, dass der Jugendliche Mängel in seinem Leben, zum Beispiel fehlende Aufmerksamkeit, durch Mediennutzung kompensiere. Dies könne auch teilweise der Vorbildfunktion der Eltern geschuldet sein, wenn diese Medien mehr Aufmerksamkeit schenkten als ihren Kindern. Denn auch Kleinkinder zeigen nur Interesse an den Smartphones ihrer Eltern, wenn diese ihnen vorleben, dass es sich um ein sehr wichtiges Gerät handelt. Deshalb plädiert Milzner dafür, dass man genau hinschaut, anstatt eine gefährliche Globaldiagnose zu stellen, die die wirklichen Ursachen verschleiere.

Dass die heutige Jugend ganz selbstverständlich digitale Medien, u.a. das Smartphone, als Teil ihrer Lebenswirklichkeit wahrnimmt, bedeutet allerdings leider noch lange nicht, dass sie kompetent mit den ihr zur Verfügung stehenden Medien umgeht. Denn anders als oftmals angenommen, sind Kinder nicht per se „digital natives“, die den kompetenten Umgang mit digitalen Medien quasi mit der Muttermilch aufgenommen haben. Und genau hier beginnt die Aufgabe der Eltern und der Medienpädagogik.

Heranwachsende dabei zu unterstützen, sich zu selbstbewussten und unabhängigen Persönlichkeiten zu entwickeln, die kompetent, individuell und sozial zuträglich ihr Handy nutzen, ist als übergeordnetes Ziel medienpädagogischer Anstrengungen anzusehen. Denn sicher gebundene und selbstbewusste Kinder und Jugendliche zeigen ein deutlich kompetenteres Handynutzungsverhalten. Dafür sollte den Heranwachsenden einerseits der Einfluss von Gruppennormen und -druck bewusst gemacht werden, andererseits Hilfestellungen zu verstärkter Selbstregulation geboten werden. (Mediatisierung mobil. Handy- und Internetnutzung von Kindern und Jugendlichen. Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. 2015, S. 14)

Anstatt also Aufrufen Gehör zu schenken, digitale Medien aufgrund ihres Suchtcharakters in einer fraglichen Analogie zum Alkoholismus aus den Schulen zu verbannen

Doch während Alkoholiker den Alkohol aus dem Haus verbannen, um nicht der Versuchung zu erliegen, passiert in den Schulen aktuell genau das Gegenteil. Es klingt schon fast wie blanker Hohn, wenn Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung und Fürsprecher der „digitalen Bildungsreform“, fordert: „Schulen müssen mit WLAN ausgestattet werden, Handys gehören nicht verboten, sondern als Arbeitsmittel auf den Tisch.“ (LinkedIn 6.1.2017)

muss das Thema genau da behandelt werden. Um dieses Thema im Unterricht aufzugreifen, hat beispielsweise Klicksafe in Kooperation mit Handysektor ein Angebot zu mobilen Medien konzipiert, und auch die Initiative „Medien in die Schule“ kann Impulse geben.

Wer sich mit dem Thema intensiver auseinandersetzen möchte, dem sei Georg Milzners Buch „Digitale Hysterie“ wärmstens empfohlen.

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