Evidenzbasierte Bildungspolitik scheint als alternativlos betrachtet zu werden. Studien liefern Legitimation, sichern Entscheidungen ab und versprechen Wirksamkeit. Auch der Navigator Bildung Digitalisierung knüpft daran an: Er betont die Rolle empirischer Forschung, um Orientierung zu geben und Transformation auf eine nachvollziehbare Grundlage zu stellen. Doch wer Bildung ausschließlich auf die Evidenz stützt, übersieht, dass gerade im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche, multipler Krisen und Disruption retrospektive Analysen nur begrenzt tragfähig sind. Denn sie beruhen auf einer Welt, die so nicht mehr existiert.
Der Navigator BD beruht laut den Autor:innen auf einem umfassenden Verständnis der digitalen Transformation im Sinne des mit der Digitalisierung einhergehenden kulturellen Wandels. Er strukturiert seine Empfehlungen in drei strategischen Handlungsfeldern: Haltung zur Kultur der Digitalität, digital-förderliche Rahmenbedingungen und digital-didaktische Konzepte. Grundlage ist ein evidenzbasiertes Monitoring, das Orientierung und Weiterentwicklung ermöglichen soll.
Genau hier setzt eine alternative Perspektive an: Sie anerkennt die Bedeutung von Forschung und Evaluation, verweigert sich aber einer Reduktion auf quantitative Belegbarkeit. Transformation bedeutet in diesem Verständnis: Möglichkeitsräume schaffen, in denen wir nicht nur das verbessern, was wir schon kennen, sondern in denen wir gänzlich neue Wege erkunden – oft ohne Beweis, dass es funktioniert. Das erfordert eine Kultur des Vertrauens in kollektive Lernprozesse, in soziale Intelligenz, in die Gestaltungskraft der Beteiligten und der Glaube daran, dass Scheitern ein Lerngutschein ist. Das lineare Transformationsverständnis, das in vielen Studien angelegt ist, kann in solchen Möglichkeitsräumen jedoch nicht greifen. Wenn der Navigator BD etwa auf Wirkung und Wirksamkeit abzielt, meint er damit laut meinem Verständnis messbare Effekte innerhalb bestehender Rahmen. Doch Transformation wirkt anders: nicht sofort, nicht standardisiert, nicht immer sichtbar. Ihre Spuren zeigen sich oft erst viel später im Rückblick – und häufig in Beziehung statt in Zahlen. Wer Transformation vor allem dann für real hält, wenn sie sich kurzfristig evaluieren lässt, wird entscheidende Prozesse übersehen.
Das bedeutet nicht, dass alles relativ wird. Aber es bedeutet, dass Transformation nicht exekutiv umsetzbar ist, sondern sich in der Wechselwirkung von innerer Haltung und äußerer Praxis entfaltet. Die Dynamiken, die in transformativen Prozessen wirksam werden – wie Ent-Täuschung, Desorientierung oder Exploration – lassen sich nicht operationalisieren. Sie lassen sich nur durchleben. Sie sind nicht steuerbar – aber sie lassen sich bewusst gestalten, wenn wir bereit sind, die Unsicherheit als Teil des Prozesses anzuerkennen.
Das Missverständnis der Evidenzlogik liegt in der Vorstellung, dass Zukunft ein planbares Ziel ist. Doch Zukunft ist nicht das Ergebnis evidenzbasierter Planung – sondern das Produkt kollektiver Imagination. Das bedeutet nicht, dass wir ins Beliebige abgleiten. Es bedeutet nur, dass es einen epistemischen Shift braucht: weg von der Idee, dass das Zählbare automatisch das Relevante ist.
Eine systematische Gegenerzählung beschreibt Transformation daher nicht als Programm, sondern als kulturellen Prozess, der auf Ermöglichung statt auf Implementation setzt. Es geht nicht darum, Lösungen zu skalieren – sondern Räume zu schaffen, in denen Neues emergieren kann. Die Frage ist nicht, welche Maßnahmen empirisch belegt sind, sondern welche Haltungen es braucht, um neue Möglichkeiten überhaupt zu erkennen.
Wenn wir Transformation ernst nehmen, müssen wir auch den Mut haben, über das hinauszugehen, was wir belegen können. Wir brauchen Erfahrung – nicht nur als subjektives Erleben, sondern als kollektiv reflektiertes Wissen. Wir brauchen Geschichten, nicht nur Daten. Wir brauchen eine Bildungskultur, in der das noch Unsichere nicht als Mangel, sondern als Potenzial gelesen wird. Gerade weil der Navigator BD auf retrospektive Evidenz aufbaut, entsteht implizit der Eindruck bei mir, dass Vision aus der Vergangenheit abgeleitet werden könne. Doch Vision ist kein Datensatz. Sie entsteht aus der Verbindung von Erfahrung, Weltbezug und Imagination – und in der Bildung auch mit Blick auf den Bildungsauftrag. Wer Zukunft gestalten will, muss sich auch von den Erwartungen lösen, dass jede Veränderung sich vorher beweisen lassen muss. Transformation beginnt nicht mit Studien – sondern mit Haltung.
Der Navigator BD liefert uns viele wichtige Aspekte. Aber der eigentliche Wandel beginnt dort, wo Menschen Fragen stellen, wo sie Irritationen zulassen, wo sie Zukunft nicht nur messen, sondern erzählen.
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- Cover Future:Guide Bildung: Jr Korpa | Unsplash