Bildungspolitik liebt Steuerung. Zielvereinbarungen, Handlungsfelder, Fortschrittsindikatoren versprechen Orientierung in komplexen Systemen. Der Navigator Bildung Digitalisierung reiht sich in diese Tradition ein, indem er Bildungstransformation als „Zukunftsthema“ fassbar machen will, strukturiert entlang von einer Sammlung an Kategorien. Damit liefert er einen hilfreichen Überblick über empirische Befunde und zeigt auf, welche Baustellen aktuell sichtbar sind. Doch was auf den ersten Blick wie ein strategischer Kompass aussieht, bleibt einem bestimmten Denken verhaftet: Transformation als steuerbares Projekt.
Die Absicht des Navigators ist dabei nicht zu kritisieren – wohl aber die implizite Logik, die ihm zugrunde liegt. Auch dort, wo er Transformation fordert, bleibt diese innerhalb der bestehenden Steuerungsarchitekturen verankert: in Form von Programmen, Rahmenkonzepten, Umsetzungsempfehlungen. Dass Transformation aber mehr ist als Systementwicklung, bleibt angedeutet, aber unentfaltet. Die Bezugnahme auf Studien verdeckt dabei oft, dass diese Studien selbst systemimmanent sind und selten radikal infrage stellen, was Bildung eigentlich sein sollte.
Genau hier setzt eine systematische Gegenerzählung an: Transformation ist in diesem Verständnis keine Folge geplanter Implementierung, sondern ein kultureller Prozess, der sich nicht linear vollzieht. Sie zeigt sich in Wirkungsdynamiken, die nicht als Phasen, sondern als Spannungsfelder zu begreifen sind: Ent-Täuschung, Desorientierung, Retardierung, Revision, Imagination, Exploration, Wirksamkeit. Diese Dynamiken koexistieren – und diese Gleichzeitigkeit verhindert Steuerung und fordert Beziehung (mehr dazu: The Future:Project).
Was bedeutet das für Bildungsakteur:innen? Sie müssen lernen, mit Nichtwissen zu arbeiten. Steuerung durch Vertrauen zu ersetzen. Wirkung nicht zu planen, sondern zu beobachten. Und den Mut zu entwickeln, Prozesse offen zu halten. Transformation ist Beziehungskunst, nicht Controlling. Sie verläuft nicht entlang eines Meilensteinplans, sondern in Form von Suchbewegungen, Irritationen, kollektiven Deutungsverschiebungen.
Eine Leerstelle im Navigator ist für mich das Verhältnis zwischen Mensch und Technik. Wo KI, VR oder AR erwähnt werden, bleiben sie meist instrumentell – als Tools zur Effizienzsteigerung. Was fehlt, ist ein Verständnis von Technologie als Beziehungspartner: im Sinne eines „Human-Machine Teamplay“, das nicht nur technische Potenziale hebt, sondern menschliche Gestaltungskraft entfaltet. Gerade KI könnte helfen, Muster zu erkennen, blinde Flecken sichtbar zu machen oder neue Möglichkeitsräume zu explorieren – wenn wir sie in Beziehung denken, nicht nur als Werkzeug.
Der Wunsch, Transformation planbar zu machen, geht oft mit dem Bedürfnis einher, ihre Wirksamkeit kurzfristig zu messen. Auch der Navigator greift auf dieses Bedürfnis zurück – etwa wenn von Wirkung im Sinne der Überprüfbarkeit die Rede ist. Doch echte Wirkung im Kontext kultureller Transformation ist nicht linear erfassbar. Sie zeigt sich oft in diskreten, emergenten Veränderungen, im Erleben und in Beziehungen – nicht in quantifizierbaren Zielerreichungsgraden. Wer Wirksamkeit nur dort erkennt, wo Daten sie belegen, wird viele der wirklich relevanten Entwicklungen übersehen.
Wo der Navigator BD von digitaler Transformation als Kern der Transformation der Bildung spricht, rückt eine relationale Perspektive die menschliche Erfahrung in den Mittelpunkt – nicht als weicheren Faktor, sondern als systemisch wirksame Größe. Diese Perspektive widerspricht nicht dem Navigator BD in seinem Befund – wohl aber in seinem Rahmen. Während dieser das bestehende System analysiert, nimmt die Gegenerzählung das System selbst als Teil des Problems in den Blick und sucht nach möglichen Zukünften, die jenseits der aktuellen Logiken liegen.
Diese Verschiebung erfordert ein anderes Verständnis von Verantwortung. Nicht als Kontrollfunktion, sondern als Ermächtigung zur Gestaltung. Nicht als Überwachung von Wirkung, sondern als Einladung zur Teilhabe. Nicht als Projektleitung, sondern als Raumhüter:in für Entwicklung. Wer so denkt, verlässt die Illusion der Planbarkeit und betritt das Feld der Ermöglichung.
Dieses Denken macht ein Angebot, das radikaler ist als es auf den ersten Blick scheint: Es entkoppelt Transformation vom Steuerungsglauben und verbindet sie mit einer zutiefst humanen Idee von Bildung. Einer Idee, in der Irritation kein Defizit, sondern Startpunkt ist. In der Beziehung keine Methode, sondern Infrastruktur ist. Und in der das Ziel nicht Standardisierung, sondern Ermächtigung zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft ist.
Diese Idee steht quer zu vielem, was Bildungsplanung aktuell dominiert. Aber genau deshalb braucht es sie als systematische Gegenerzählung: nicht um zu verneinen, was ist. Sondern um sichtbar zu machen, was sein könnte, wenn wir den Mut hätten, Steuerung nicht als Ziel, sondern als Werkzeug unter vielen zu verstehen – und manchmal auch loszulassen.
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- Cover Future:Guide Bildung: Jr Korpa | Unsplash