Mehr als nur wirksam: Warum Hatties ‚Visible Learning‘ für die Zukunft des Lernens nicht ausreicht

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In Deutschland wächst der Wunsch nach einfachen Antworten auf schwierige Bildungsfragen. Und kaum ein Name wird dabei so häufig zitiert wie John Hattie. Doch es irritiert, wie unkritisch seine Arbeiten mancherorts als Blaupause für Reformen in Betracht gezogen werden – als ließe sich ein komplexes Bildungssystem mit Effektgrößen steuern. Wer sich im Hattie-Hype verliert, läuft Gefahr, die eigentlichen Herausforderungen zu übersehen: soziale Ungleichheit, Ressourcenmangel, ein erschöpftes System und die Anforderungen eines Epochenwandels. Wir dürfen nicht den Fehler machen, Steuerungslogik mit Zukunft zu verwechseln. Vor diesem Hintergrund lohnt ein genauerer Blick darauf, was Hattie eigentlich zeigt – und was nicht.

Wenn über „wirksamen Unterricht“ gesprochen wird, fällt ein Name fast zwangsläufig: John Hattie. Sein Werk Visible Learning (2008, The Sequel 2023) hat die internationale Bildungsdebatte nachhaltig geprägt. In Baden-Württemberg scheint er mittlerweile jährlich für eine Vortragsreise zu Gast und in den Wochen nach seinem Besuch findet man viele Beiträge auf einschlägigen Webseiten: 2024 ging es beispielsweise um die Tatsache, dass unser Bildungssystem ungerecht ist, 2025 gibt es unter anderem eine harsche Kritik am individualisierten und selbstgesteuerten Lernen.

Mit groß angelegten Meta-Meta-Analysen versuchte er, eine scheinbar einfache Frage zu beantworten: Was wirkt im Unterricht? Auf Basis dieser Frage entstand eine Rangliste von Einflussfaktoren, etwa Feedback, Lehrer-Schüler-Beziehung, Metakognition und viele weitere, die Lehrkräften Orientierung geben soll. Und tatsächlich: Diese Perspektive hat unbestreitbare Stärken. Sie macht sichtbar, was auf der Mikroebene im Unterrichtsgeschehen wirkt. Sie liefert Hinweise darauf, was im klassischen Setting den Unterschied machen kann.

Aber sie hat auch Grenzen. Denn Hattie operiert in einem Rahmen, der Unterricht als Standardannahme setzt: Unterricht als plan- und steuerbare Situation, Lehrkräfte als zentrale Instanz, Lernende als Reagierende, Lernerfolg als messbarer Output. Und: es ist wichtig zu sagen, dass er selbst sich als Statistiker, nicht als Bildungstheoretiker bezeichnet. Seine Analysen sind quantitativ kraftvoll, aber sie abstrahieren stark von sozialen Realitäten und Kontextvariablen, die gerade in Deutschland mit hoher Heterogenität entscheidend sind. Und genau hier wird es interessant.

Wenn das System wankt: Lernen im Epochenwandel

Wir leben nicht mehr in der Welt, in der Visible Learning konzipiert wurde. Wir befinden uns mitten in einem Epochenwandel. Ökologische, technologische, gesellschaftliche, ökonomische und demokratische Transformationen greifen ineinander, das alte „Normal“ ist vorbei, das neue „Normal“ noch nicht da.

Die sogenannte Omnikrise – ein Begriff, der beschreibt, wie multiple Krisen sich nicht addieren, sondern gegenseitig verstärken – stellt Bildung vor eine Aufgabe, die weit über Unterrichtsoptimierung hinausgeht:

  • Menschen befähigen, mit Unsicherheit zu leben, statt sie auszublenden.
  • Gestaltungsfähigkeit und Verantwortung stärken, statt reine Anpassungsleistung zu erwarten.
  • Solidarität, Beziehung und Zukunftsorientierung fördern, statt reduktionistisch auf Output zu schauen.

Kurz: Lernen wird zur kulturellen Überlebenskompetenz. Und das verändert den Blick auf Wirksamkeit fundamental. Es hilft nicht, rückwärtsgewandt Metastudien auszuwerten, die sich auf pädagogische Praktiken beziehen – denn diese Herangehensweise sagt nichts über Möglichkeiten oder über die Zukunft aus.

Die Realität im Bildungssystem: Zwischen Anspruch und Alltag

Wer heute in Schulen hineinschaut – nicht nur in Konferenzräume, sondern in Klassenzimmer, Lehrer:innenzimmer und Elternabende – sieht: Viele Herausforderungen sind nicht pädagogisch, sondern sozial, strukturell, organisatorisch.

Zahlreiche Studien bestätigen das, unter anderem PISA, IGLU, der IQB-Bildungstrend und nationale Sozialberichte:

  • Sprachkompetenzen reichen bei vielen Lernenden nicht aus, um dem Unterricht folgen zu können.
  • Soziale Herkunft prägt Bildungserfolg immer noch in einem Maße, das für ein demokratisches Land beschämend ist.
  • Elternbeteiligung gelingt nicht überall — teils aus Überlastung, teils aus Sprachhürden, teils aus systemischem Misstrauen.
  • Inklusion und Diversität sind Realität, aber die Strukturen und Ressourcen, um ihr gerecht zu werden, fehlen oft.
  • Lehrkräftemangel, fehlende Räume, unzureichende Ausstattung: Wer Schule erlebt, weiß, dass Innovation selten am Willen scheitert, sondern häufig an Rahmenbedingungen.

Unter solchen Voraussetzungen geht es in vielen Situationen zunächst darum, ganz grundlegende Voraussetzungen für Lernen herzustellen. Und erst dann könnte man die Frage nach „wirksamen Methoden“ stellen – zumindest wenn man das derzeitige Bildungssystem als gesetzt betrachtet.

Das genügt nicht mehr: Warum Methoden allein nicht tragen

Natürlich ist es wertvoll zu wissen, dass Feedback wirkt oder dass klare Strukturen Orientierung geben. Aber in einer Welt, die sich stetig neu sortiert, reicht es nicht mehr, Listen abzuarbeiten oder Erfolgsfaktoren linear zu übertragen.

Wir brauchen Haltungs- und Entwicklungsräume, keine Rezepte. Wir brauchen Strategien, die nicht nur auf Unterricht zielen, sondern auf die Fähigkeit, Bildung in einer komplexen Welt neu zu gestalten. Und wir brauchen Rahmenbedingungen, die es uns erlauben, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken und ihr mutig entgegenzuschreiten, weil wir uns zutrauen, sie gemeinsam zu gestalten.

Ein Moment aus der Praxis

In einem Workshop in Heilbronn mit Schulleitungen im September 2025, bei dem Hattie selbst sprach, war dieser Konflikt spürbar. Die Aufmerksamkeit am Anfang war groß. Doch im Verlauf kippte die Stimmung leise. Bereits in der ersten Pause des Workshops hörte ich Sätze wie:

  • „Das klingt zwar schlüssig, aber das ist nicht unsere Realität.“
  • „Er versteht nicht, in welchem Umfeld wir arbeiten: die Lehrkräfte an meiner Startchancenschule sind heilfroh, wenn sie den Tag überleben – ich kann ihnen doch nicht sagen, dass es ihre Schuld ist, wenn es nicht gut läuft.“
  • „Die Idee, Lehrkräfte einzeln eng zu begleiten, ist zwar gut und wir versuchen das an unserer Realschule seit längerem – aber bei 60 Kolleg:innen können wir gerade einmal maximal fünf pro Schuljahr begleiten.“
  • „Deutschland ist nicht Neuseeland und Bildungssysteme lassen sich empirisch nicht kulturneutral vergleichen.“

Es entstand leider auch kein echter Dialog. Kein Innehalten, um die Spannung zwischen empirischer Evidenz und schulischer Realität anzuerkennen.

Es handelt sich bei den Aussagen der Teilnehmenden gar nicht so sehr um eine echte Ablehnung der Forschung — sondern das Gefühl, nicht gesehen zu werden. Die Folge: Distanz. Wissenschaft und Praxis rutschten auseinander. Das Problem war nicht die Theorie, sondern das fehlende Mitschwingen mit den Bedingungen, unter denen Schulen handeln müssen. Wirksamkeit ohne Wirklichkeit überzeugt nicht.

Kritische Perspektiven aus Forschung und Praxis

Diese Irritation ist kein Einzelfall. Weltweit – und auch im deutschsprachigen Raum – gibt es kritische Stimmen, die Hatties Ansatz als wirkungsvoll, aber zugleich verkürzt beschreiben. Häufig wird darauf hingewiesen, dass seine Meta-Meta-Analysen zwar beeindruckend umfangreich sind, jedoch sehr unterschiedliche Studiendesigns, Qualitätsstandards und Bildungssysteme aggregieren, als ließen sie sich ohne Weiteres vergleichen. Die mathematische Verdichtung erzeugt Klarheit, aber auch Glättung: Kontextbedingungen und soziale Lagen treten in den Hintergrund, obwohl sie nachweislich starken Einfluss auf Lernerfolg haben.

Kritiker:innen betonen zudem, dass viele der in Visible Learning ausgewiesenen Effektstärken korrelativ, nicht kausal sind, und damit nicht eindeutig beantworten, warum etwas wirkt oder unter welchen Voraussetzungen. Auch wird darauf hingewiesen, dass Hatties Modell “non-school-factors” wie Armut, familiäre Belastung oder Mehrsprachigkeit kaum abbildet, obwohl diese empirisch oft stärker auf Lernerfolg wirken als Unterrichtsmerkmale.

Zudem wird argumentiert, dass seine Perspektive primär top-down und lehrkraftzentriert bleibt – mit Fokus auf Analyse, Steuerbarkeit und Sichtbarkeit von Unterrichtsprozessen. Fragen nach Teilhabe, Selbstbestimmung, demokratischer Mitgestaltung und sozialer Gerechtigkeit treten in den Hintergrund. Der Vorwurf ist daher nicht, dass Hattie falsch liege, sondern dass seine Forschung für ein System konzipiert wurde, das Stabilität voraussetzt – nicht Transformation.

Mit anderen Worten: Hattie beschreibt ein System, das war — nicht zwingend eines, das wir brauchen. Und er sieht durch die Brille des Statistikers vor allem Zahlen, vergisst jedoch dabei die Menschen.

Einige Quellen

Metastrategien für eine lernende Zukunft

Statt isolierte Methoden zu optimieren, braucht es kulturelle Leitlinien, die Orientierung geben, wenn Systeme in Bewegung sind:

  • Lebenslanges Lernen | learning for life

Nicht als Schlagwort, sondern als gesellschaftlicher Lernmodus: neugierig bleiben, Fragen stellen, Annahmen überprüfen, verlernen und neu lernen. Lehrende und Lernende als Mitlernende in einer Welt, die keinen stabilen Boden verspricht.

Beispiel: NuVu

  • Spielerisches Erkunden | playfulness

Playfulness als Zukunftskompetenz: ausprobieren, scheitern dürfen, Muster brechen, ungewohnte Wege denken. In einer unsicheren Welt wird Spiel zur ernsthaftesten Art, sich auf Zukunft vorzubereiten: nicht Dekoration, sondern Navigation.

Beispiel: SERASUM – For a better tomorrow

  • Gestaltung von Lernumgebungen | learning environments

Weg vom Klassenzimmer als einzigem Raum. Lernwerkstätten, digitale Räume, soziale Räume, hybride Umgebungen, Beziehung als Infrastruktur. Nicht Unterrichtsräume, sondern Möglichkeitsräume.

Beispiel: Wo Zukunft wächst – Lernumgebungen, die zukunftsorientiertes Lernen ermöglichen

  • Mensch-Maschine-Teamplay | human-machine teamplay

Technologie nicht als Ersatz und nicht als Kontrolle, sondern als Erweiterung menschlicher Möglichkeiten. KI als Denk- und Entwicklungsbegleiterin, die Autonomie stärkt statt beschneidet. Ko-Kreation statt Automatisierung.

Beispiele: Wir schreiben queere Zukünfte | Die KI-Chance

Für mehr Details zu den Metastrategien: Future:Guide Bildung, S. 21-23 | Leseprobe

Und Hattie? Nicht verwerfen — weiterdenken

Bemerkenswert ist, dass viele von Hatties Erkenntnissen einer kritischen Haltung nicht widersprechen. Viele seiner Aussagen sind nicht grundlegend falsch. Es ist beispielsweise nicht überraschend, dass individualisiertes und selbstgesteuertes Lernen als nicht zielführend betrachtet wird. Ich teile diese Ansicht durchaus – nur mache ich dies aus pädagogischer und zukunftsorientierter Sicht an der nach wie vor damit verbundenen Fremdsteuerung fest, nicht an einer niedrigen Effektstärke.

Problematisch sind vielmehr die Schlussfolgerungen und Lösungsvorschläge, die Hattie seinen Feststellungen folgen lässt. Dennoch lässt sich an vieles von dem, was er sagt, anknüpfen, um es in die Zukunft zu überführen – wenn auch unter anderen Vorzeichen: denn beispielsweise

  • Feedback bleibt bedeutsam, aber als Resonanz, nicht als Steuerungsinstrument, das überholte Hierarchien zwischen Alt und Jung verstetigt.
  • Beziehung bleibt zentral — nicht als „Faktor“, sondern als Fundament.
  • Selbstwirksamkeit bedeutet nicht Aufgaben lösen, die eine erwachsene Person stellt, sondern Welt mitgestalten und selbstbestimmt und personalisiert lernen.
  • Metakognition wird zur Fähigkeit, in Unsicherheit zu navigieren.
  • Klarheit wird zur Lernarchitektur, die Orientierung gibt, während Wege sich entwickeln.
  • Lernermöglicher:innen haben eine wichtige Funktion, jedoch nicht als Garant:innen oder Verantwortliche für den Erfolg in einem überholten Schulsystem, sondern auf menschlicher Ebene.

Hattie zeigt also lediglich, was im bestehenden System wirkt. Die Zukunft fragt aber, wie ein System aussehen muss, das Menschen befähigt, mit Wandel zu leben und Zukunft zu gestalten.

Von Optimierung zu Transformation

Visible Learning fragt: Was steigert Wirkung im bestehenden System?

Zukunftsorientierte Bildung fragt: Was stärkt Menschen in einer unsicheren Welt und befähigt sie, das neue Zeitalter der menschlichen Digitalität mitzugestalten?

Beides hat seinen Wert. Aber wir dürfen nicht so tun, als sei Optimierung bereits Transformation. Sie kann maximal eine Station, oder viele kleine Stationen, auf dem Weg in eine neue Epoche darstellen. Menschen in einer Welt multipler Krisen zu befähigen, braucht mehr als evidenzbasierte Mikro-Interventionen. Es braucht Mut, Räume, Beziehung, Verantwortung und Imagination. Kein Ranking der Welt kann das ersetzen.

Was wirklich sichtbar werden muss

Hattie will Lernen sichtbar machen — und das ist ein berechtigtes Anliegen. Doch in einer Welt im Wandel reicht es nicht mehr, Lernprozesse zu optimieren.

Wir müssen sichtbar machen, was Menschen befähigt, Zukunft zu gestalten.

Transformation beginnt dort, wo Wirksamkeit nicht in Tests endet, sondern sich im Wachsen, Handeln und Hoffen zeigt; in Mut, Beziehung, Verantwortung und Imagination.

Kurz: es geht längst nicht mehr darum, fremdgesteuertes Lernen sichtbar zu machen, sondern um das Wachsen von Menschen.

Einen niederschwelligen Zugang zu Visible Learning in deutscher Sprache und Vorschläge, wie die Erkenntnisse in der Praxis genutzt werden können, gibt es übrigens von der Fachhochschule Nordwestschweiz auf der Webseite „Lernen sichtbar machen

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