Sprache ist nicht neutral. Sie beschreibt nicht einfach nur, was ist – sie erzeugt Wirklichkeit. Das gilt in besonderem Maße für den Bildungsdiskurs. Begriffe wie Innovation, Transformation, zeitgemäß, digital, zukunftsorientiert oder Bildungsgerechtigkeit sind nicht nur Vokabeln. Sie sind Deutungsangebote. Und sie prägen, was wir für möglich, sinnvoll oder notwendig halten.
Im Navigator Bildung Digitalisierung werden viele dieser Begriffe verwendet – mit guter Absicht, oft mit hoher Sorgfalt, manchmal aber auch mit semantischer Unschärfe. Andere Perspektiven setzen bewusst an dieser Stelle an: Sie verstehen Sprache nicht als bloßes Transportmittel, sondern als kulturelle Praxis, als Instrument der Weltgestaltung. Begriffe werden dort nicht als gegeben genommen, sondern als gestaltbar – als Teil einer kollektiven Verständigung darüber, wie wir Bildung gestalten wollen und welche Welt wir mit ihr mitgestalten.
Wenn wir von zeitgemäßer Bildung sprechen, klingt das nach Fortschritt. Aber wer bestimmt, was zeitgemäß ist? Wenn wir digitale Transformation fordern, meinen wir dann einen kulturellen Wandel – oder einfach nur mehr Tablets, mit denen man beispielsweise besser digital zusammenarbeiten und kreativ sein kann? Wenn wir Kompetenzen für die Zukunft formulieren, geht es dann um humane Handlungsfähigkeit – oder um Arbeitsmarktfähigkeit im engen Sinne? Und kann man Kompetenzen wirklich erwerben oder benötigt man einen Raum, um sie zu entwickeln?
Solche Fragen sind keine Haarspalterei. Sie entscheiden darüber, welche Perspektiven sichtbar werden – und welche verschwinden. Sie bestimmen, ob Lernen als Beziehung, als Kontrolle oder als Dienstleistung verstanden wird. Und sie legen fest, welche Handlungsspielräume Akteur:innen haben – oder eben nicht. Gerade für Lernende – und alle, die mit ihnen lernen – ist diese sprachliche Rahmung entscheidend: Sie beeinflusst, ob sie sich als Adressat:innen oder als Mitgestalter:innen erleben, ob sie sich eingeladen oder ausgeschlossen fühlen. Sprache schafft Zugang – oder verstellt ihn.
Wer Transformation ernst meint, muss sprachlich differenzieren können – ohne belehrend zu wirken. Es geht nicht darum, neue Jargons zu etablieren. Sondern darum, sensibel zu sein für das, was Sprache ermöglicht oder verhindert. Das gilt nicht nur für offizielle Dokumente, sondern auch für den alltäglichen Sprachgebrauch in Lernumgebungen, Weiterbildungskontexten oder politischen Aushandlungsprozessen. Welche Begriffe verwenden wir, wenn wir über Lernende sprechen? Über Nicht-Teilnehmende? Über Bildungsferne? Unsere Worte sind nie neutral – sie formen Realität.
Ein Beispiel: Das Wort Implementierung suggeriert, dass Bildungspolitik wie Software funktioniert. Dass man Dinge einführen kann – unabhängig davon, ob Menschen sie wollen oder verstehen. Demgegenüber steht das Bild von Gestaltung: offen, partizipativ, nicht linear. Es nimmt den Menschen ernst – nicht als Zielgruppe, sondern als Mitgestalter:in.
In transformatorischen Bildungsansätzen wird diese Differenz bewusst gemacht. Sprache wird dort nicht nur benutzt, sondern reflektiert. Es geht darum, Begriffe zu finden, die eine andere Bildung möglich machen – jenseits des „So reden wir eben darüber“.
Wenn neue Begriffe geprägt werden – wie etwa human-digitale Lernkultur, Co-Kreation, zukunftsorientierte Lernumgebungen oder zukunftsorientiertes Lernen – dann ist das mehr als Wortspielerei. Es ist der Versuch, neue Räume zu öffnen. Räume, in denen Bildung nicht verwaltet, sondern verändert wird. In denen nicht nur Strukturen, sondern auch Narrative in Bewegung geraten.
Diese Begriffe sind nicht abschließend definiert. Sie sind Angebote. Impulse. Werkzeuge für ein gemeinsames Suchen. Und sie laden ein, die eigene Sprache zu überdenken – nicht im Sinne von Political Correctness, sondern im Sinne von Möglichkeitskompetenz. Gerade deshalb braucht es ein Nebeneinander unterschiedlicher Zugänge – präzise definierter Begriffe dort, wo Klarheit wichtig ist, und offener Begriffe dort, wo Zukunft gedacht wird.
Was wir heute brauchen, ist keine neue Terminologie. Sondern eine sprachliche Kultur, die Differenz aushält. Die Widerspruch nicht ausblendet, sondern integriert. Die Begriffe nicht standardisiert, sondern lebendig hält – aber auch stets darauf Wert legt, Begriffe mit Potenzial nicht zu leeren Worthülsen verkommen zu lassen und sie differenziert zu verwenden.
Das gilt beispielsweise für Begriffe wie zukunftsorientiert: Dieses Adjektiv darf nicht als bloße Variante von zeitgemäß missverstanden werden. Wer von Zukunft spricht, sollte auch Haltungsveränderung meinen – nicht nur die Berücksichtigung der Tatsache, dass unsere Welt digital geprägt ist und in Zukunft auch sein wird, sondern die Bereitschaft, Bildung neu zu denken und gemeinsam zu gestalten.
Auch andere Begriffe, die zunehmend im bildungspolitischen Diskurs auftauchen, verdienen eine differenzierte Betrachtung – etwa Gamification, Lernspiel, Serious Game oder Game-based Learning. Im Navigator BD werden sie im Zusammenhang mit Adaptivität erwähnt, ohne jedoch trennscharf oder differenziert verwendet zu werden. Der Begriff Game-based Learning bleibt selbst dort unerwähnt, wo Forschungslücken benannt werden – obwohl gerade dieser Ansatz das größte transformative Potenzial innerhalb der Game-Based-Education-Zugänge birgt (s. SERASUM – For a better tomorrow) und es bereits gute Praxisbeispiele für Game-based Learning gibt (s. BLOCKALOT). Ebenso werden AR und VR pauschal als „unterstützende Technologien“ eingeordnet, ohne später auf die eigentlichen Potenziale dieser Technologien als Gestaltungs- und Möglichkeitsräume einzugehen. Auch hier wäre eine präzisere Sprache wünschenswert, die nicht nur die technischen Möglichkeiten benennt, sondern auch die pädagogischen Potenziale sichtbar macht. Denn gerade solche Begriffe prägen, was wir in Bildung überhaupt für möglich halten. Sprache entscheidet also nicht nur über Verständlichkeit, sondern über Gestaltungsspielräume – und darüber, ob Bildungsvisionen zu konkreten Ermöglichungsräumen werden können.
Zu dieser neuen sprachlichen Kultur gehört auch die Bereitschaft, eigene Worte zu verlieren – und neue zu suchen. Es bedeutet, Bildung nicht als Set von Kompetenzen, sondern als sprachlich vermittelten Möglichkeitsraum zu verstehen. Und es bedeutet, dass wir über unsere Sprache auch unsere Haltung zur Welt, zu den Menschen und zur Zukunft reflektieren. In dieser Hinsicht kann Sprache auch ein demokratisches Werkzeug sein: Wer spricht, wer benennt, wer definiert – und wer nicht – sind keine trivialen Fragen. Transformation braucht Begriffe, die Machtverhältnisse sichtbar machen, ohne sie zu verfestigen. Und eine sprachliche Praxis, die Widersprüche nicht glättet, sondern fruchtbar macht.
Wenn Bildung Transformation ermöglichen soll, muss sie sprachlich anschlussfähig sein – nicht nur an Systeme, sondern an Menschen. Sie muss berühren, nicht nur beschreiben. Sie muss eine Sprache finden, die nicht abschreckt, sondern einlädt. Eine Sprache, die fragt: Was ist möglich – wenn wir es anders sagen?
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- Cover Future:Guide Bildung: Jr Korpa | Unsplash