Innovation gilt als das Leitmotiv moderner Bildungspolitik. Programme, Pilotprojekte, Modellversuche – wer heute von Zukunft spricht, spricht fast immer im Vokabular der Innovation. Auch aktuelle Strategien zur „digitalen Bildung“ nutzen diese Sprache: Sie diagnostizieren Entwicklungsbedarfe, verweisen auf Good Practices und argumentieren entlang von Innovationspfaden. Die dahinterliegende Idee: Wandel ist das Ergebnis kluger Planung, effizienter Umsetzung und erfolgreicher Skalierung.
Doch genau hier liegt eine der tiefsten Missverständnisse unserer Zeit: Wenn Transformation als Folge systematischer Innovationsprozesse verstanden wird, verliert sie ihre eigentliche Qualität. Denn echte Transformation ist keine planbare Intervention, sondern eine komplexe, nichtlineare und oft widersprüchliche Dynamik. Sie ist kein Projekt, das sich managen lässt. Sie ist ein kulturelles Ereignis, das uns als ganze Gesellschaft betrifft – und das wir nicht von außen auf das Bildungssystem aufpfropfen können.
Die Innovationslogik folgt einer betriebswirtschaftlichen Rationalität: Entwicklung erfolgt entlang eines Problems, dem eine Lösung gegenübersteht. Diese Lösung wird getestet, optimiert und dann skaliert. Doch Bildung funktioniert nicht wie Produktentwicklung. Sie ist kein Markt, in dem Lösungen einfach übertragen werden können. Was in einem Kontext funktioniert, kann in einem anderen scheitern – nicht, weil es schlecht umgesetzt wurde, sondern weil die kulturelle Passung fehlt.
Dem gegenüber steht ein Denken, das auf Imagination setzt: auf das Zulassen des Unfertigen, auf Exploration statt Implementation, auf Desorientierung als Erkenntnismoment. Transformation ist hier kein linearer Fortschritt, sondern ein Zusammenspiel von Suchbewegungen, Brüchen und Neuverortungen. Sie ist nicht planbar, aber gestaltbar – wenn wir bereit sind, uns auf ihre Paradoxien einzulassen.
Ein Beispiel: Der Wunsch nach Innovation führt oft dazu, dass Schulen digitale Tools einführen, neue Formate ausprobieren oder sich mit Maker Spaces und VR-Räumen ausstatten. Doch wenn diese Neuerungen nicht von einem kulturellen Wandel begleitet werden – wenn Haltung, Selbstverständnis, Beziehungsebene und der pädagogische Ansatz gleich bleiben – dann bleibt die Innovation an der Oberfläche. Sie wird zur Innovationstapete auf alten Wänden.
Viele aktuelle Berichte benennen diese Entwicklungen, bleiben aber häufig im technischen Verständnis von Innovation verhaftet. Auch der Navigator Bildung Digitalisierung folgt in seinem Transformationsverständnis weitgehend einer steuerbaren Innovationslogik. Transformation erscheint dort als Summe gezielter Maßnahmen – in Form von Programmen, digitalen Tools oder organisatorischen Impulsen. Es geht offenkundig um die digitale Transformation der Bildung. Was dabei fehlt, ist ein kulturelles Verständnis von Wandel, das nicht linear und planbar ist, sondern widersprüchlich, emergent und beziehungsabhängig. Gerade deshalb braucht es eine Gegenerzählung, die diese Tiefe sichtbar macht. Es wird gefragt, was implementierbar, skalierbar, systemisch anschlussfähig ist. Selten jedoch wird gefragt: Was braucht es, damit Neues überhaupt als wertvoll erkannt wird? Welche Irritationen müssen wir zulassen, um Altes – sofern nötig – loslassen zu können? Und was heißt das für die Menschen im System – nicht nur für die Steuernden, sondern auch für die Lernenden, Lernbegleitenden, Eltern, Betriebe, Gesellschaft?
Transformation ist nicht die Summe vieler Projekte. Sie ist nicht die Fortschreibung eines Systems mit anderen Mitteln. Sie ist ein Perspektivwechsel – eine neue Landkarte des Denkens und Handelns. Und dafür reicht es nicht, Tools zu tauschen oder Methoden zu modernisieren. Es braucht einen Bruch mit der Idee, dass Zukunft gemacht wird wie ein Geschäftsbericht.
Eine Gegenerzählung zur Innovationslogik fragt nicht nach der nächsten Lösung, sondern nach dem nächsten Möglichkeitsraum. Imagination ist dabei keine romantische Spielerei, sondern ein systemischer Kraftakt: Sie fordert uns heraus, über die Grenzen bestehender Steuerungslogiken hinauszudenken. Wo der Navigator BD Fortschritt über die „Handlungsfelder“ systematisch erfassen will, lädt eine transformative Perspektive dazu ein, das Unbestimmbare als Gestaltungsraum zuzulassen. Diese Spannung ist kein Widerspruch – sie ist der Möglichkeitsraum, in dem sich Zukunft ereignen kann. Sie setzt auf Prozesse statt Produkte, auf Beziehung statt auf Programme. Sie fragt nicht: Was funktioniert? Sondern: Was ist jetzt nötig, um überhaupt etwas Neues zu denken? Welche Aspekte der Vergangenheit sollten wir erhalten bzw. sollten wir wieder mehr in den Fokus nehmen? Welche Randerscheinungen bzw. Gegentrends sollten wir uns einmal genauer anschauen?
Denn oft zeigen gerade die Gegentrends, was uns fehlt. Sie sind keine Verweigerung von Entwicklung – sondern ein Korrektiv, ein Resonanzraum für das Verborgene. Während etwa Digitalisierung auf Effizienz, Skalierung und Steuerbarkeit zielt, rufen Gegentrends wie Zeitwohlstand, Sinnorientierung oder Beziehung in Erinnerung, was im Prozess verloren zu gehen droht. Sie stellen nicht das Ziel von Transformation infrage – sie weiten unseren Blick. Sie fordern uns auf, genauer hinzusehen: Was bleibt auf der Strecke, wenn wir Bildung immer mit Bezug zur Technologie denken? Und was brauchen wir, damit sich Veränderung wirklich als kultureller Wandel wirksam werden kann? Gegentrends sind kein Rückschritt – sie sind oft die Zukunft in ihrer frühesten Form. Aus ihrer Reibung mit den Megatrends entsteht Zukunft (vgl. The Future:Project).
Das bedeutet also nicht, dass der Begriff „Innovation“ grundsätzlich falsch wäre. Innovation kann sinnstiftend sein – wenn sie nicht auf technologische Neuerungen oder Effizienzreformen verengt wird, sondern dort geschieht, wo sie kulturell verankert ist und Beziehung, Sinn und Verantwortung mitdenkt. Entscheidend ist nicht das Innovationslabel, sondern die Frage: Was wird verändert, für wen – und mit welcher Haltung?
Darin liegt die vielleicht wichtigste Unterscheidung: Die eine Sichtweise zeigt auf, wie man den bestehenden Rahmen besser füllt. Die andere fragt, ob der Rahmen überhaupt noch passt. Und diese Frage ist unbequem – aber überlebenswichtig, wenn wir Bildung nicht nur digitalisieren, sondern wirklich transformieren wollen.
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- Cover Future:Guide Bildung: Jr Korpa | Unsplash