Das Kreuz mit der Digitalisierung der Bildung

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Gefühlt findet kein Wort so oft den Weg in Gespräche und Texte aller Art wie das Wort „Digitalisierung“. Dies ist per se natürlich weder verwerflich noch verwunderlich, denn nichts prägt unsere Zeit so sehr wie die Veränderungen, die sich kontinuierlich weiterentwickelnde digitale Technologien in allen Bereichen des Lebens ausgelöst haben. Das Problem dabei ist, dass das Wort immer häufiger als catch-all phrase – eine Worthülse, oder auch ein modernes Schlagwort – verwendet wird. Dies dient der Vereinfachung, tut aber der Welt keinen Gefallen. In keinem Bereich ist dies sichtbarer als im Bildungsbereich.

Anders als die deutsche Sprache, in der das Wort „Digitalisierung“ zu einer Art Homonym geworden ist und häufig auch als Kurzform für „digitale Transformation“ verwendet wird, ist die englische Sprache hier präziser: sie unterscheidet zwischen digitization, digitalization und digital transformation und verwendet diese Begriffe konsistent. Ähnlich sieht es auch in der französischen Sprache aus, die zwischen numérisation, digitalisation und transformation numérique unterscheidet. Der Einfachheit halber sollen im Folgenden die englischen Begriffe genauer unter die Lupe genommen werden.

Sucht man nach einer klaren Definition dieser Begriffe, tut man sich sehr schwer. Doch nach Sichtung verschiedener gängiger Wörterbücher der englischen Sprache und der Lektüre verschiedener Artikel, die vor allem aus dem Businessbereich stammen, ergibt sich folgendes Bild:

Digitization bedeutet die Konvertierung der analogen Form in eine digitale Form, also beispielsweise die Verwandlung eines analogen Arbeitsblatts in ein PDF.

Von digititalization spricht man im Kontext von Prozessveränderungen, die darauf basieren, dass bisher analog verfügbare Daten nun in digitaler Form vorliegen. Ein Beispiel hierfür ist die Abkehr vom Kopieren, da man Materialien über eine Lernplattform auch digital an Lernende weitergeben kann oder der Einsatz von Apps, um den Übungsprozess durch die neuen technischen Möglichkeiten umzugestalten.

Der Begriff digital transformation setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, die in dieser Kombination ihren Weg – anders als beispielsweise digital nomad – noch nicht in gängige Wörterbücher gefunden haben. Laut der Webseite Your Dictionary, bedeutet digital transformation

The application of digital technologies to everyday life. This began in the 1960s; however, after the Web exploded decades later and so many processes were moved to Internet-based datacenters, digital transformation has affected everyone. It has also altered the way people think about and do business, as the virtual nature of computing services often conflicts with traditional approaches. 

Ganz allgemein kann außerdem darauf verwiesen werden, dass transformation ein Nomen ist, das durch das Adjektiv digital lediglich näher bestimmt wird. Eine Transformation ist eine maßgebliche oder vollständige Veränderung einer Sache oder eines Zustands.

Im Businessbereich definiert beispielsweise Salesforce den Begriff digital transformation so

„the process of using digital technologies to create new — or modify existing — business processes, culture, and customer experiences to meet changing business and market requirements.“

Es geht als grob darum, dass sich die Anforderungen in einem bestimmten Sektor aufgrund von Veränderungen, die neue Technologien im Schlepptau hatten, verändert haben und dass etwas getan werden muss, um den aktuellen Ansprüchen gerecht zu werden. Der Markt ist im Bildungsbereich die Gesellschaft, an der Jugendliche in der Zukunft teilhaben sollen, die Kultur ist das Mindset all deren, die am Bildungsprozess beteiligt sind, und die Kunden sind die Jugendlichen. Die digitale Transformation im Bildungsbereich betrifft also den auf einer offenen Haltung basierenden konstruktiven Umgang mit veränderten Rahmenbedingungen. Wären die Auswirkungen digitaler Technologien auf die Gesellschaft nicht so umfassend und anhaltend, würde es vielleicht tatsächlich ausreichen, das aktuelle Schulsystem zu verändern. Da durch sie jedoch ein umfassender kultureller Wandel ausgelöst wurde, der noch lange nicht vorbei ist, genügt dies nicht mehr und wir brauchen ein radikal neues Bildungssystem, das den gesellschaftlichen Anforderungen wieder gerecht wird und angesichts der exponentiellen Zukunft so flexibel ist, dass es mit weiteren Veränderungen Schritt halten kann.

Nun ist es jedoch so, dass eine solche drastische Veränderung nicht einfach umzusetzen ist, da es auf verschiedenen Ebenen Widerstände gibt. Daher wird heutzutage gern auf die Digitalisierung der Schule verwiesen und der Fokus auf die Technologie gelegt. Daraus resultieren Werbekampagnen, die die Technologie in den Vordergrund stellen, selten gut durchdachte Anschaffungen (z.B. „Smart“boards) oder Fortbildungen mit Titeln wie „Das iPad im Englischunterricht“ oder „Videoproduktion mit der App XYZ“. Die Pädagogik selbst und auch das System verändern sich jedoch nur schleppend.

Diese Betonung der digitalen bzw. technischen Möglichkeiten bei gleichzeitiger Konservierung eines überholten Systems, welches auch ein eher antiquiertes Verständnis der Lehrerrolle als Kontroll- und Orchestrierungsinstanz beinhaltet, entspricht meiner Auffassung nach dem, was heutzutage oft als zeitgemäße Bildung bezeichnet wird. Nicht selten findet man daher auch den Begriff der digitalen Bildung zusammen mit oder als Synonym für zeitgemäße Bildung. Die Realität der zeitgemäßen Bildung ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem ursprünglichen Ideal, das hinter diesem Begriff steckte. Was wir jedoch bräuchten, wäre eine nachhaltige Transformation, die der digitalen Transformation der Gesellschaft, den aktuellen dringenden Problemen und auch der exponentiellen Zukunft gerecht wird. Dies entspräche meiner Auffassung nach dem zukunftsorientierten Lernen. Die zeitgemäße Bildung kann dabei zwar helfen und eine Art Vermittlerrolle im Übergang zum zukunftsorientierten Lernen einnehmen, doch treten wir seit Jahren auf der Stelle, die Verhandlungen stecken quasi in einer Sackgasse.

Für den Bildungsbereich bedeutet diese sprachliche Vereinfachung und die undifferenzierte Verwendung des Begriffes Digitalisierung also zum einen, dass Entscheider gegegebenfalls mit dem gleichen Wort unterschiedliche Dinge meinen und damit aneinander vorbeireden. Zum anderen bedeutet es, dass es denjenigen, die Veränderungen gegenüber nicht offen sind, weil Veränderung unbequem ist, sehr einfach gemacht wird, progressiv zu klingen und konservativ zu bleiben. Die Konsequenz ist jedoch, dass das Bildungssystem in einem Zustand verharrt, den wir uns mit Blick auf die gegenwärtigen Probleme und die exponentielle Zukunft als Gesellschaft und als internationale Gemeinschaft schlichtweg nicht mehr leisten können.

Vielleicht resultiert diese schleppende Veränderungsbereitschaft in der Bildung auch teilweise aus der Tatsache, dass angenommen wird, dass wir im Bildungssektor nach wie vor in einer VUCA-Welt leben, also einer Welt, die volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig ist, und deren Komplexität man versucht durch Experimente Herr zu werden, die bei empirisch bewiesenem Erfolg irgendwann schrittweise ausgeweitet werden können. Schaut man jedoch genau hin, so erkennt man relativ schnell die unbequeme Wahrheit: mehr als in einer VUCA-Welt leben wir heute, mehr als 30 Jahre nachdem der Begriff der VUCA-Welt geprägt wurde, in einer BANI-Welt, welche von Zerbrechlichkeit und Angst geprägt, nicht linear und für die meisten Menschen unverständlich ist. Das Chaos dieser BANI-Welt kann man nicht durch zaghafte Experimente unter Kontrolle bringen, sondern es muss gehandelt werden, und dies schnell und umfassend. Für die Evaluation und potenzielle Anpassungen ist später noch genügend Zeit. Es gibt durchaus Lebensbereiche, in denen wir es noch mit einer VUCA-Welt zu tun haben, der Bildungsbereich gehört jedoch nicht dazu.

Bildquellen

  • Digitization | Digitalization | Digital Transformation: Pikist | Pikist
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