Deeper Learning ist in aller Munde. Auf Tagungen, in Schulentwicklungsprozessen und pädagogischen Innovationsprojekten wird es als vielversprechender Weg zu einer besseren Schule gefeiert. Die Idee klingt verlockend: mehr Tiefgang, mehr Kompetenz, mehr Selbstverantwortung. Doch was genau steckt eigentlich hinter diesem Konzept? Und welche Bildungshaltung wird damit verbunden – oder eben nicht?
Als jemand, die Bildung nicht als Reparaturbetrieb für ein ausgedientes System, sondern als kulturelle Zukunftsgestaltung versteht, habe ich mich intensiv mit dem Begriff „Deeper Learning“ beschäftigt. Dabei stellte sich schnell heraus: Zwischen dem ursprünglichen Konzept aus dem angloamerikanischen Raum und seiner deutschsprachigen Umsetzung liegen Welten. Und wenn ich genau hinschaue, liegt meine Haltung viel näher am internationalen Verständnis – ja, geht sogar noch einen Schritt weiter.
Deeper Learning – woher kommt der Begriff eigentlich?
Deeper Learning wurde in den 2010er Jahren von der Hewlett Foundation als strategischer Bildungsansatz formuliert. Dabei handelt es sich nicht um eine Methode oder Unterrichtsform, sondern um ein umfassendes Verständnis von Lernen, das junge Menschen auf ein selbstbestimmtes, verantwortungsbewusstes Handeln in einer dynamischen, komplexen und demokratischen Gesellschaft vorbereiten soll.
Im Zentrum stehen sechs eng miteinander verknüpfte Kompetenzbereiche:
- Beherrschung grundlegender akademischer Inhalte
- Kritisches Denken und Problemlösen
- Zusammenarbeit
- Effektive Kommunikation
- Lernen zu lernen (Metakognition und Selbstregulation)
- Entwicklung einer lernförderlichen Denkweise (z. B. Selbstwirksamkeit, Durchhaltevermögen, Sinnbezug)
Diese Kompetenzen zielen darauf ab, nicht nur Wissen aufzubauen, sondern dieses auch anwenden, hinterfragen, weiterentwickeln und in neuen Kontexten nutzen zu können. Lernen wird dabei als aktiver, sinnstiftender Prozess verstanden, in dem junge Menschen Verantwortung übernehmen, Herausforderungen bewältigen und sich selbst als wirksam erleben.
Die Hewlett Foundation hebt hervor, dass Deeper Learning auch bedeutet, Lernende auf die Realität einer sich wandelnden Welt vorzubereiten – nicht durch bloße Wissensvermittlung, sondern durch die Förderung von Reflexionsfähigkeit, Gestaltungswillen und sozialer Verantwortung.
Deeper Learning im ursprünglichen Sinn bedeutet also nicht, dass Lehrkräfte Projekte entwerfen, die Lernende dann ausführen. Es bedeutet vielmehr: Lernende entwerfen sich selbst als wirksame Akteur:innen ihres Lernens – unterstützt durch eine Kultur, die Vertrauen, Beziehung und Relevanz ernst nimmt.
Und in Deutschland?
In Deutschland wurde der Begriff Deeper Learning 2018 u. a. durch Anne Sliwka und Kolleg:innen aufgenommen und in konkrete Schulentwicklungsprojekte überführt. Dabei entstand ein strukturiertes Modell mit fünf klaren Phasen (Exploration, Orientierung, Vertiefung, Präsentation, Reflexion) sowie eine theoretische Fundierung, die eine tiefere Lernkultur im Sinne der Kompetenzorientierung etablieren soll.
Diese Adaption ist grundsätzlich wertvoll: Sie bringt Bewegung in tradierte Unterrichtsformen und schafft Möglichkeiten für projektorientiertes, kollaboratives und selbstgesteuertes Lernen. Das Modell ist anschlussfähig für Schulen, unterstützt systemische Schulentwicklung und bietet Orientierung für die Praxis.
Und doch zeigt sich hier eine typische (typische deutsche?) Dynamik: Ein ursprünglich offen konzipiertes, gesellschaftlich aufgeladenes und in demokratischer Bildungsphilosophie verankertes Konzept wird in systemische Logiken übersetzt – didaktisch gegliedert, phasenspezifisch geplant und stärker von der Lehrkraft gestaltet. Damit wird Deeper Learning im deutschen Kontext häufig zur innovativen Unterrichtsmethode – aber nicht zur pädagogischen Haltung.
Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied zeigt sich im Umgang mit Digitalisierung: Während im ursprünglichen Konzept der Hewlett Foundation digitale Technologien lediglich als unterstützendes Werkzeug auftauchen – eingebettet in kollaborative, projektbasierte Lernprozesse –, ist in der deutschen Umsetzung Digitalisierung sichtbarer verankert. Hier wird Deeper Learning auch als Antwort auf die Anforderungen einer digitalen Wissensgesellschaft verstanden. Aus meiner Sicht darf Technologie jedoch nie Selbstzweck sein: Entscheidend ist, ob sie dazu beiträgt, Lernräume zu schaffen, die Beteiligung, Sinn und Selbstwirksamkeit ermöglichen – im Sinne einer menschlichen Digitalität.
Was dabei oft verloren geht, ist genau das, was mir besonders wichtig ist: die ethische, zukunftsgestaltende und menschenbildorientierte Dimension von Bildung. Lernen darf nicht nur effizient, planbar und kompetenzorientiert sein – es muss auch transformativ sein.
Aspekt | Hewlett Foundation (USA) | Sliwka et al. (Deutschland) |
Entstehung / Kontext | Strategischer Bildungsansatz der Hewlett Foundation | Übertragung ins deutsche Schulsystem im Kontext von Schulentwicklungsprojekten |
Zielsetzung | Persönlichkeitsentwicklung, Demokratiefähigkeit, lebenslanges Lernen, Vorbereitung auf eine komplexe, demokratische Welt | Etablierung tiefer Lernprozesse in der Schule zur Förderung von 21st Century Skills und Kompetenzen für die Zukunft |
Kompetenzbereiche | 6 Schlüsselkompetenzen: akademische Inhalte, kritisches Denken, Zusammenarbeit, Kommunikation, Lernen lernen, akademisches Mindset | Bezug zu 4K und schulpraktisch operationalisierte Kompetenzen innerhalb der Projektphasen (z. B. Reflexion, Präsentation) |
Rolle der Lernenden | Aktive, selbstverantwortliche Gestalter:innen ihres Lernens (hoher Grad an Selbstbestimmung und Reflexivität) | Lernende übernehmen Verantwortung innerhalb eines von der Lehrkraft strukturierten Rahmens |
Rolle der Lehrkraft | Ermöglicher:in, Coach, Unterstützer:in bei offenen Lernprozessen, nicht direktiv | Projektinitiator:in, Strukturgeber:in, teilweise auch Impulsgeber:in und inhaltlich anleitend |
Lernform / Methodik | Projektorientiertes, anwendungsbezogenes, authentisches Lernen mit Fokus auf Transfer und aktive Teilhabe | Didaktisch strukturiertes Projektlernen mit definierter zeitlicher und inhaltlicher Abfolge |
Phasenstruktur | Keine festgelegte Struktur – Orientierung an prozessualem, tiefem Lernen, je nach Setting unterschiedlich | Fünf klar definierte Phasen: Exploration, Orientierung, Vertiefung, Präsentation, Reflexion |
Stellenwert von Instruktion | Punktuelle Begleitung und Anleitung bei Bedarf – eher zurückhaltend | Höherer Stellenwert – gezielte Instruktionen, insbesondere in den Anfangsphasen zur Unterstützung der Lernenden |
Didaktische Einbettung | Haltungsgeleitet, demokratiepädagogisch fundiert, individuell und systemisch transformativ | Anschlussfähig an deutsche Schulrealität, curriculare Verankerung, methodisch-didaktisch fundiert |
Transformation vs. Innovation | Fokus auf Transformation von Bildung und Gesellschaft (ethisch, politisch, kulturell) | Fokus auf schulinterne Innovation und Qualitätsentwicklung durch veränderte Unterrichtskultur |
Während die Hewlett Foundation Deeper Learning also mit einem breiten, gesellschaftlich und demokratiepädagogisch fundierten Kompetenzverständnis verbindet, fokussiert das deutsche Modell stärker auf schulpraktisch operationalisierbare Teilkompetenzen – häufig im Rahmen didaktisch geplanter Projektphasen.
Deep Learning vs. Surface Learning – eine nützliche, aber begrenzte Unterscheidung
Manchmal wird „Deeper Learning“ mit „Deep Learning“ verwechselt – also mit dem pädagogischen Konzept, das zwischen oberflächlichem und tiefem Lernen unterscheidet. Während Surface Learning auf kurzfristiges Behalten und Reproduktion (etwa für Prüfungen) abzielt, geht es beim Deep Learning um Verständnis, Verknüpfung und Transfer. Diese Unterscheidung ist bedeutsam – sie markiert eine klare pädagogische Haltung: Lernen soll bedeutsam sein, verankert im Vorwissen, mit Blick auf Anwendung und Lebenswelt.
Für mich war Deep Learning vor einigen Jahren auch ein Zwischenschritt – ein notwendiges Innehalten auf dem Weg zu einer tieferen, ganzheitlicheren Vorstellung von Bildung. Doch es blieb zu stark im individuell-kognitiven Raum. Es fragt: „Verstehst du das?“ – aber nicht: „Was bedeutet es für die Welt, in der du lebst?“
Insofern war Deep Learning für mich ein Stepping Stone – hilfreich, aber nicht das Ziel.
Wo stehe ich?
Ein zentraler Unterschied, der in der Diskussion um Deeper Learning oft übersehen wird, ist der zwischen Selbststeuerung und Selbstbestimmung. Während Selbststeuerung innerhalb bestehender Rahmenbedingungen stattfindet – Lernziele, Methoden, Zeitmanagement im vorgegebenen Setting –, bedeutet Selbstbestimmung ein grundlegenderes Recht: nämlich selbst mitzubestimmen, was, warum, wie und wofür gelernt wird. Schon die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 hält fest, dass junge Menschen in allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden müssen – altersgemäß und ernsthaft.
Deeper Learning im deutschen Kontext betont meist die Selbststeuerung innerhalb eines Systems. Doch wer Bildung als kulturelle Zukunftsgestaltung versteht, kommt an der Frage nach echter Selbstbestimmung nicht vorbei. Denn nur wenn Lernende auch über Ziele und Bedeutung des Lernens mitentscheiden können, entsteht ein Lernraum, der nicht nur tief, sondern auch transformativ ist – und damit anschlussfähig an die Idee einer menschlichen Digitalität, in der Technologie nicht Selbstzweck, sondern Beziehungsträger und Ermöglichungsraum ist.
In vielen Diskussionen rund um Deeper Learning steht „zeitgemäßes Lernen“ im Zentrum – oft verbunden mit der Digitalisierung von Schulen. Doch aus meiner Sicht greift dieser Begriff zu kurz. Digitalisierung mag Anlass für Veränderung sein, aber sie darf nicht das Ziel selbst sein. Ich spreche deshalb lieber von zukunftsorientiertem Lernen: Lernen, das nicht nur der Gegenwart gerecht wird, sondern dem Morgen verpflichtet ist. In diesem Verständnis geht es nicht um Tools, sondern um Haltung, nicht um Technik, sondern um Teilhabe und Gestaltung – eingebettet in eine Vorstellung von menschlicher Digitalität, die Technologie nicht als Ersatz, sondern als Resonanzraum für Beziehungen und Gestaltungsmöglichkeiten versteht.
Ich verbinde viele Elemente des ursprünglichen Deeper Learning mit meiner eigenen Haltung:
- Verantwortung statt Reproduktion
- Sinn statt Beliebigkeit
- Gestaltungsräume statt Belehrung
- Lernen als Persönlichkeitsentwicklung – nicht nur als funktionale Qualifikation
Aber ich gehe noch weiter: Ich arbeite mit Regnose statt Prognose – ich denke Bildung vom möglichen Morgen her zurück, um heute handlungsfähig zu bleiben. Ich verstehe Lernen als Transformation – nicht als lineare Entwicklung, sondern als gleichzeitig wirksame Dynamiken von Ent-Täuschung, Desorientierung, Imagination, Exploration, Revision, Retardierung und Wirksamkeit.
Ich sehe Kinder und Jugendliche nicht als „Lernende“ im klassischen Sinne, sondern als aktive Mitgestalter:innen des Quellcodes unserer Zukunft. Sie haben Rechte. Sie haben Stimmen. Und sie brauchen Räume, in denen sie nicht nur passiv lernen oder angeleitet werden, sondern in denen sie Wirkung entfalten, Entscheidungen treffen und selbstbestimmt handeln können. Lernende brauchen Gelegenheiten, in denen sie gehört, ernst genommen und wirksam werden – etwa durch Beteiligung an Schulentwicklung, die Mitgestaltung von Projekten oder eigene Vorhaben mit gesellschaftlicher Relevanz.
Selbstbestimmung ist kein Privileg besonders engagierter junger Menschen – sie ist eine Gerechtigkeitsfrage. Denn nur wer mitgestalten darf, erlebt sich als wirksam und gehört.
Deeper Learning kann also mehr sein als eine Methode – wenn wir es als Einladung zur echten Mitgestaltung verstehen.
Deeper Learning? Ja – aber nicht kastriert
Der Hype um Deeper Learning kann etwas bewegen. Er schafft Aufmerksamkeit für tiefgreifendere Formen des Lernens, für Projektorientierung, Kollaboration und Eigenverantwortung. Aber wenn wir es auf ein schulisches Methodenmodell reduzieren, verschenken wir sein eigentliches Potenzial. Dann wird aus einer Bildungsvision eine Systemvariante. Aus einer Haltung eine Technik. Ein Ja – aber eingepasst. Oder, zugespitzt: Ja, aber kastriert.
Ich wünsche mir eine Rückkehr – oder besser: eine Weiterentwicklung – des ursprünglichen Deeper Learning. Eine Bildung, die sich nicht in Unterrichtseinheiten erschöpft, sondern die Zukunft in den Blick nimmt. Die menschlich ist, politisch, lebendig und würdevoll.
Dazu gehört auch, dass wir Begriffe klären: Geht es um die Transformation der Bildung – also Strukturen, Formate, Systeme? Oder um transformatorische Bildung – also Prozesse, die Menschen verändern, Haltung formen, Weltbezug schaffen? Ich glaube: Es geht um beides – aber nicht unabhängig voneinander. Strukturen zu verändern, ohne Menschen zu befähigen, greift zu kurz. Und Menschen zu stärken, ohne ihnen Räume zur Wirksamkeit zu geben, bleibt folgenlos.
Ich wünsche mir eine Bildung, die nicht repariert, sondern ermöglicht. Eine Bildung, die nicht nur Fragen beantwortet, sondern die richtigen überhaupt erst stellt. Eine Bildung, die nicht sagt: „So ist es.“, sondern fragt: „Was könnte sein?“
Wenn wir Deeper Learning in diesem Sinn verstehen – tief, transformierend, menschenbildbasiert –, dann ist es kein Buzzword. Dann ist es der Anfang einer echten Bildungsvision.
Aber nur, wenn wir aufhören, junge Menschen zu verwalten – und anfangen, ihnen Zugriff auf das System zu geben. Wer will, dass sie den Quellcode der Zukunft mitgestalten, muss ihnen endlich die nötigen Rechte, Räume und Ressourcen überlassen. Alles andere bleibt ein gut gemeintes Update eines veralteten Betriebssystems.
🙋♀️ Weiterdenken?
Credits: The Future:Project | All Rights ReservedWer sich intensiver mit den hier skizzierten Haltungen, mit transformatorischem Lernen und zukunftsorientierter Bildung auseinandersetzen möchte, findet im Future:Guide Bildung – Zukunft gestalten lernen viele Impulse.
Der Future:Guide Bildung beschreibt Bildung nicht als Systempflege, sondern als Gestaltungsraum für Menschen, Beziehungen und Möglichkeitsräume – mit konkreten Szenarien, Reflexionsmodellen und einem klaren Bekenntnis zur Frage: Wie wollen wir in Zukunft leben – und was muss Bildung heute dafür sein und tun?
Weiterführende Lektüre
Deeper Learning (international)
- Hewlett Foundation: Strategic Plan Summary Education Program
Deeper Learning (deutschsprachig)
- Heidelberg School of Education: Das Deeper Learning Unterrichtsmodell
- Deeper Learning gestalten – Workbook der Deutschen Telekom Stiftung
Deep Learning (pädagogisch)
- Deep Learning vs Surface Learning – Richard James Rogers
- Deep vs. Surface Learning: Which Approach Wins?
- Deep, Surface and Strategic Learning – Southern Cross University
Bildquellen
- Future:Guide Bildung: The Future:Project | All Rights Reserved
- Wisdom: Brett Jordan | Unsplash