Please Reboot: Die Zukunft des Lernens durch die Brille des OECD Learning 2030 Framework betrachtet

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Das aktuelle Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen. Dass es krankt, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, viele der vorgeschlagenen Lösungsansätze sind jedoch nur Pflaster, die man auf längst entzündete Wunden klebt. Die letzten Monate und Jahre sind geprägt durch Berichte zu „Lernlücken“ aufgrund der Corona-Pandemie, dem immer größer werdenden Lehrkräftemangel und den immer schlechter werdenden Leistungen, nicht nur im Bereich der Grundfertigkeiten, sondern auch bei der Medienkompetenz. Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass besonders der zuletzt genannte Schwachpunkt unseres Bildungssystems seit fast 15 Jahren bekannt ist und immer größere Ausmaße annimmt. Das OECD Learning 2030 Framework von 2018 könnte diesbezüglich viele Probleme an der Wurzel bekämpfen, wenn der Weg konsequent zu Ende gegangen (nicht nur gedacht) würde.

Das Learning 2030 Framework geht davon aus, dass Wissen, Qualifikation und Haltungen und Werte sich vermischen und so Kompetenzen entwickelt werden, die die Menschen in der Zukunft handlungsfähig machen. Dadurch können sie dazu beitragen, dass es jeder einzelnen Person sowie der Gesellschaft gut geht. Darauf ist der sogenannte Lernkompass ausgerichtet – und sowohl Eltern und Communities, als auch Lehrkräfte und Mitlernende tragen dazu bei, dass dieses Ziel für jede Person erreichbar wird.

Credits: OECD

Eine Schlüsselrolle kommt hier dem „Raum“ zu, in dem sich die notwendigen (Zukunfts-)Kompetenzen entwickeln. Es gibt verschiedene solcher Räume, die mehr oder weniger erfolgreich sind. Die Familie gehört ebenso dazu wie Vereine, außerschulische Bildungseinrichtungen und die Schule. Da Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Alltags in der Schule verbringen, kommt ihr vermutlich realistisch gesehen die größte Bedeutung zu.

Doch genau hier beginnt sich das Problem zu manifestieren: Das heutige Schulsystem mit seinem Fokus auf Unterricht und Prüfungen stammt aus dem Zeitalter der Industrialisierung und erinnert in seiner Orientierung an akademischer Exzellenz an die Zeit der Aufklärung. Das Ziel der Bildung, nämlich die Welt zu verstehen und mitzugestalten, wurde in diesem System der lehrkräftezentrierten und prüfungsorientierten Wissensvermittlung sicherlich lange Zeit erreicht. Das Erbe der Industrialisierung ist u.a. erkennbar in der Tatsache, dass Schulen häufig wie Fabriken aussehen, die lange Gänge und einen Pausengong haben, aber auch im Aufbau des Systems. Denn im Prinzip handelt es sich hier um nichts anderes als eine Fließbandbildung: Kinder werden zu einem bestimmten Alter auf ein Fließband gelegt und langsam zu homogenen kleinen Menschen geformt, die am Ende der Produktion einer Qualitätskontrolle unterworfen werden, die entscheidet, ob sie marktreif sind.

Übertragen auf das OECD Learning 2030 Framework ist es so, dass versucht wird, in Klassenzimmern Kompetenzen zu entwickeln. Aufgrund der Wissensorientierung der Prüfungskultur steht jedoch trotz der Betonung von Kompetenzen in Bildungs- und Lehrplänen vor allem das Wissen im Vordergrund, nicht Qualifikationen, Haltungen und Werte (Demokratiebildung). Das System Schule prüft am Ende der Schulzeit – die eigentlich dazu beitragen sollte, dass Kinder und Jugendliche die Kompetenzen entwickeln, die sie zu verantwortungsvollen Bürger:innen und Gestalter:innen der Zukunft machen – vor allem Wissen ab und entlässt sie dann mit einem „Reifezeugnis“ in die Welt. Die Handlungsfähigkeit in der Zukunft scheint irrelevant und im Bereich der individuellen Verantwortung einer jeden Person angesiedelt. Dies schadet der Gesellschaft und unserer Zukunft nachhaltig – und ist letztendlich auch verantwortungslos.

Denn wir leben längst nicht mehr im Zeitalter der Industrialisierung, sondern in einer komplexen und oft sich chaotisch anfühlenden Welt der digitalen Transformation, in der wir als Gesellschaft vor unzähligen Problemen wie Kriegen, Pandemien und den Auswirkungen des Klimawandels stehen, die selbst die „klügsten“ (im Sinne von leistungsstärksten) Menschen dieser Erde nicht lösen können. In dieser Welt muss täglich neues Wissen generiert werden, die Menschen müssen flexibel und kreativ sein und gemeinschaftlich diese globalen Probleme angehen. Darauf weisen auch die Ziele nachhaltiger Entwicklung, die durch die Inner Development Goals erreicht werden sollen, schon seit Jahren hin. Für das Schulsystem bedeutet dies eine radikale Neuausrichtung: Zukunftsorientiertes Lernen muss personalisiert sein, es muss sich auf die Zukunft anstatt auf Wissen aus der Vergangenheit ausrichten,  Lernende müssen Verantwortung übernehmen dürfen und Lehrkräfte können nur Lernbegleitende („learning facilitators“) und/oder Lernpartner:innen sein. Hier steht nicht mehr ein kurzfristiges konkretes Ziel im Mittelpunkt, sondern der Lernprozess an sich, der uns lebenslang begleitet. Damit ist auch klar, dass es nicht um Digitalisierung geht, sondern um den damit einhergehenden kulturellen Wandel.

Dies erklärt deutlich, woher die aktuelle Krise des Bildungssystems kommt und es wird klar, dass das OECD Learning 2030 Framework dabei helfen kann, diese Krise zu überwinden. Dass wir in der Krise stecken, ist bei den vielen Symptomen, die wir sehen, zuletzt dem PISA-„Schock“ im Dezember 2023, nicht zu leugnen. Die Frage ist lediglich, wie wir damit umgehen: werden wir weiterhin das alte Spiel weiterspielen, da es uns immer noch zu gut geht, oder werden wir endlich ein neues Spiel beginnen und uns zugestehen, Fehler zu machen und daraus zu lernen?

Credits: Zukunftsinstitut

Um bei der Spielemetapher zu bleiben: Simon Sineks Konzept von endlichen und unendlichen Spielen bietet hier einen aufschlussreichen Rahmen. Endliche Spiele, wie Sinek sie beschreibt, sind durch klare Grenzen, bekannte Spieler:innen und feste Regeln gekennzeichnet. Ihr Hauptziel ist der Sieg, der meist kurzfristig orientiert ist. Unendliche Spiele hingegen haben nicht nur bekannte Spieler:innen, keine festen Regeln und kein klares Ende. Der Fokus liegt auf Nachhaltigkeit, Anpassungsfähigkeit und kontinuierlicher Entwicklung.

Sinek erklärt weiterhin, dass diese beiden Arten von Spielen zwar prinzipiell koexistieren können (z.B. Fußball und ein Spiel wie Minecraft), dass Innovation jedoch durch fehlendes Vertrauen und fehlende Kollaboration dann behindert wird, wenn man versucht, ein unendliches Spiel mit einem endlichen Mindset zu spielen. Und genau dies geschieht im aktuellen Bildungssystem. Denn Schulen sind traditionell wie endliche Spiele strukturiert: Sie haben feste Lehrpläne, klar definierte Bewertungssysteme und messen Erfolg oft anhand kurzfristiger Leistungen wie Prüfungsergebnissen. Diese Struktur kann jedoch in der sich schnell wandelnden Welt der digitalen Ära limitierend sein. Die digitale Transformation fordert Schulen heraus, über den traditionellen Rahmen hinaus zu denken und sich auf die Fähigkeiten und Kompetenzen zu konzentrieren, die für lebenslanges Lernen und Anpassungsfähigkeit in einer sich ständig verändernden Welt notwendig sind. In einem „unendlichen“ Schulsystem wären Zukunftskompetenzen wie Resilienz, Flexibilität, Kreativität und kritisches Denken Schlüsselkomponenten. Anstatt nur Wissen zu vermitteln, wäre das Ziel, Kinder und Jugendliche (aber auch die sie begleitenden Erwachsenen) dazu zu befähigen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und sich an neue Herausforderungen anzupassen. Der Fokus würde stärker auf die Entwicklung von Kompetenzen wie Problemlösungsfähigkeiten und emotionale Intelligenz gelegt und die IDGs würden eine Schlüsselrolle spielen. Eine solche Herangehensweise würde die Bedeutung von Kooperation über Konkurrenz betonen und einen Rahmen schaffen, in dem Kinder und Jugendliche nicht länger für Tests lernen, sondern Fähigkeiten entwickeln, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten und unterstützen – und der Gesellschaft zugutekommen.

Hier kommt der „Raum“, in dem sich laut dem OECD Learning 2030 Framework die Kompetenzen entwickeln, die zur Handlungsfähigkeit in der Zukunft und damit dem individuellen und globalen Wohlergeben führen, ins Spiel. Diesen Raum gilt es, richtig zu gestalten. Und wer ist dazu besser geeignet als die Personen, die seit jeher Lerndesigner:innen sind, nämlich Lehrkräfte? Wichtig ist in diesem Kontext, dass es sich bei diesem Raum nicht mehr länger ausschließlich um einen physischen Raum (ein Klassenzimmer), sondern um eine Umgebung handelt, in der – u.a. auch aus Fehlern – gelernt werden darf und in der wir uns alle gemeinsam weiterentwickeln. Dort werden vielfältige Erfahrungen gemacht, die dazu beitragen, dass neue Werte entstehen, alle Menschen Verantwortung übernehmen, dass gelernt wird, wie man mit Konflikten umgeht und sie löst – und dies in einem inklusiven Umfeld, das alle Menschen einschließt und ihnen erlaubt, einen Beitrag zu leisten. Diese Lernumgebung kann eine Stadt oder auch die ganze Welt umfassen und schließt explizit auch virtuelle Räume mit ein. Nur so können wir aktuelle Kriege beenden, zukünftige Kriege verhindern, und die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit, aber auch die uns in unserer exponentiellen Zukunft erwartenden Herausforderungen überwinden.

Technologie hat in diesem System eine unterstützende Rolle: so können Extended Reality-Technologien und virtuelle Welten es ebenso bereichern wie KI. Doch im Vordergrund steht der Mensch, seine Kompetenzen (human skills a.k.a. soft skills) und seine gestalterische Rolle, die u.a. auch durch Ansätze wie Design und Futures Thinking entwickelt werden kann. Gleichzeitig darf natürlich nicht verschwiegen oder übersehen werden, dass diese Technologien parallel zu ihrer Verwendung in der Zukunft des Lernens großen Einfluss auf Gesellschaft und Kultur haben. Dies bedeutet, dass Bildung diese Tatsache immer im Blick haben muss. Diese Diskussion ist sehr komplex und soll hier nicht weiter verfolgt werden. Das, was hier als die Zukunft des Lernens bezeichnet wird, ist jedoch inhärent flexibel und hat eine lebenswerte Zukunft zum Ziel. Es ist kein starres System wie das bisherige Bildungssystem, sodass diese Veränderungen, die wir heute laut Amara’s Gesetz sicherlich noch stark unterschätzen, inhörent mit berücksichtigt werden, da die Bildung nicht mehr versucht, die Vergangenheit zu reproduzieren, sondern die Zukunft mitgestalten will.

Wie könnte ein Reboot des Systems aussehen? Wie könnte zukunftsorientiertes Lernen auf unserer Gegenwart aufbauend aussehen? Einen Vorschlag habe ich bereits vor längerer Zeit hier formuliert. Dies soll nicht heißen, dass die Zukunft des Lernens so aussehen wird. Diese Geschichte aus der Zukunft des Lernens beschreibt, was ich für eine wünschenswerte Zukunft halte, soll als Inspiration und als Aufforderung verstanden werden, diese Idee zu diskutieren, aus anderen Perspektiven zu reflektieren und auszubauen, um eine gemeinsame Vision zu entwickeln, die wir umsetzen können.

Bildquellen

  • OECD Learning 2030: OECD
  • Lazy Eight: Zukunftsinstitut
  • Gemeinsam die Zukunft gestalten: Dall-e
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