Amaras Gesetz im Bildungsbereich

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Wann immer neue Technologien in unser Leben treten, reagiert die Gesellschaft auf die eine oder andere Art darauf. In der Regel sind diese Reaktionen sehr ausgeprägt und mitunter emotional, was teilweise auch kulturell bedingt scheint. Das beste Beispiel hierfür ist die Künstlicher Intelligenz: Während man in Europa dieses Thema eher besorgt betrachtet (s. Filme wie Metropolis [Deutschland | 1927] oder Serien wie Black Mirror [UK | 2011+]) stellt man fest, dass beispielsweise in Asien viel positiver damit umgegangen wird (s. Figuren wie Astroboy [Japan | 1952]). Doch es gibt einige Technologien, darunter Virtual Reality und KI, denen man im Kontext des Lernens auch in Europa durchaus offen gegenübersteht und von denen man sich – im Rahmen seiner Vorstellungskraft – sehr viel verspricht.

Roy Amara (1925-2007) war der Leiter des Institute for the Future in Palo Alto. In Bezug auf die (positiven) Auswirkungen von Technologie auf die Gesellschaft formulierte er folgende Aussage, die seither als Amaras Gesetz (Amara’s Law) bekannt ist:

We tend to overestimate the effect of a technology in the short run and underestimate the effect in the long run.

Einen Eindruck davon, was dies bedeutet, bekommen wir im Bildungsbereich zur Zeit im Bereich von mobilen Endgeräten. Mobile Endgeräte werden seit die ersten Smarphones und Tablets auf den Markt kamen, stark gehypt – auch wenn es bisher allen Mehrwert-Diskussionen zum Trotz keinen eindeutigen Beleg dafür gibt, dass die in sie gesetzten Hoffnungen der Revolution im Bildungsbereich sich erfüllt hätten. Nicht (an)erkannt wurde jedoch lange Zeit,  dass sie und das mobile Internet, das sie im Schlepptau hatten, zu einem tiefgreifenden kulturellen Wandel führen würden, der schon vor acht Jahren von einem indischen Mobilfunkbetreiber humorvoll so vorhergesehen wurde:

Ebenso wenig wurde erwartet, dass dieser kulturelle Wandel, den Millennials (Gen X) wohl am drastischsten miterlebt haben, das ganze Bildungssystem in seinen Grundfesten nachhaltig erschüttern würde. Denn aufgrund der Potenziale, die in den kleinen Alleskönnern in Verbindung mit dem mobilen Internet stecken, müssen wir angesichts einer mit vielen Problemen behafteten Gegenwart und einer exponenziellen Zukunft sowohl das aktuelle Konstrukt von fachspezifischem Unterricht, als auch die Rolle der Lehrkraft und der Lernenden, sowie den Lernort Schule und die Prüfungskultur infragestellen. Nichts hat die – für viele Menschen bittere – Wahrheit, dass Technologie allein nicht alle Probleme löst, so sichtbar gemacht, wie die Corona-Pandemie.

In vielen Gesprächen, die ich in den letzten Jahren mit ganz unterschiedlichen Menschen und in diversen Kontexten geführt habe, hat sich herauskristallisiert, dass Amaras Gesetz im Bildungsbereich unter anderem auch Themen wie Extended Reality, Game-based Learning und Künstliche Intelligenz betrifft.

Seit in Bezug auf das Lernen vor allem Virtual Reality und Augmented Reality, aber auch unterschiedlich definierte Konzepte von Mixed Reality (mehr zur Terminologie s. hier) diskutiert werden, treffe ich regelmäßig Menschen, die vielfältige Ideen haben, wie man Extended Reality-Technologien einsetzen könnte, um „den Unterricht“ oder das Lernen zu verbessern. Einen besonders hohen Stellenwert nimmt hier VR ein. Daraus resultieren jedoch häufig Vorstellungen, wie man sie aus Science Fiction-Serien kennt. Beispielsweise wurde ich vor nicht allzu langer Zeit gefragt, wie man denn eine VR-Simulation für Technik erstellen könne, um den Lernenden besser erklären zu können, wie eine Windkraftanlage funktioniert, oder wie man ein voll funktionsfähiges virtuelles Chemielabor bewerkstelligen könne.

Dies zeigt, dass man sich im Rahmen dessen, was gemeinhin unter dem Konzept „Schule“ verstanden wird, große Hoffnungen macht, dass man dank der Digitalisierung, also dem Einsatz von Technologie, den „Unterricht“, wie wir ihn heute kennen, „zeitgemäßer“ gestalten kann. Dazu gehören vor allem Ideen, die sich eher im linken, lehrerzentrierten oder -gesteuerten Bereich des SAMR-Modells ansiedeln lassen. Neben der Idee, Apps wie Engage zu verwenden, um den Unterricht in einen virtuellen Hörsaal zu verlagern, erhofft man sich vor allem in den MINT-Fächern, AR- und VR-Simulationen zur Veranschaulichung von Inhalten zu nutzen und Experimente in einer der physischen Welt 1:1 entsprechenden virtuellen Welt durchführen zu können. In gesellschaftswissenschaftlichen Fächern und den Fremdsprachen erhofft man sich, Geschichte oder ferne Orte hautnah erleben zu können.

Diese Ideen scheinen natürlich im einem traditionellen Lehrkontext sehr attraktiv und modern. Sie könnten auch durchaus eine initiale Erfahrung mit dieser für viele Menschen neuen Technologie ermöglichen (mit einer Betonung des Wortes „initial, denn wer dort zu lange verharrt, geht das Risiko ein, seine pädagogischen Ziele der Bequemlichkeit zu opfern). Doch sind diese noch längst nicht alle technisch umsetzbar (z.B. Chemielabor) und hätten aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht den erhofften Lerneffekt. Dies gilt auch für die reine Nutzung von oft als „Bildungsapps“ deklarierten Anwendungen. Mit anderen Worten: diese Technologien werden ironischerweise aufrund der absolut lobenswerten Begeisterungsfähigkeit und Offenheit dieser Kollegen kurzfristig maßlos überschätzt. Entsprechend groß ist die Enttäuschung, die aus der nicht vorhandenen technischen Umsetzbarkeit oder technologischen Hürden (Infrastruktur, Ausstattung) resultiert. Nicht selten kommt es im Anschluss daran zur Abwendung von der Technologie und zur Rückkehr auf die bewährten Pfade.

Begründet liegt dies in der Tatsache, dass leider übersehen wird, dass man diese Technologien vielleicht auch ganz anders einsetzen könnte, wenn man aus der Box, in der man gedanklich sitzt, ausbrechen und ihr Potenzial jenseits traditioneller Vorstellungen von Schule und Lernen erkunden würde. Durch diesen Sprung weg von der zeitgemäßen Bildung und hin zum zukunftsorientierten Lernen würde man übrigens auch den Zukunftsschock zumindest dämpfen, den man riskiert, wenn man sich von vielversprechenden Technologien, die notwendige grundlegende Veränderungen einleiten könnten, aufgrund enttäuschter Hoffnungen zu schnell abwendet. Denn dass diese Veränderungen kommen  und dass wir uns ihnen nicht entziehen können werden, steht außer Frage.

Das Potenzial speziell von VR im Bildungsbereich liegt meines Erachtens nicht nur in den beiden grundlegenden Eigenschaften der Immersion und der Interaktion sondern vor allem in dem daraus resultierenden Gefühl der Präsenz und der agency, die man in der virtuellen Welt hat. In der virtuellen Welt kann man handeln, aus Fehlern lernen und seinen Ideen mit den dort vorhandenen Gestaltungsmitteln Ausdruck verleihen – und dies nicht nur individuell, sondern gemeinschaftlich. Diese soziale Dimension von VR wird gerne vergessen, doch hängt sie untrennbar mit dem Lernen zusammen, da Lernen ein sozialer Prozess ist (der jedoch im aktuellen Schulsystem pradoxerweise individuell evaluiert wird). Was man dazu jedoch nicht unbedingt braucht, ist eine VR-Brille, denn das Gefühl der Präsenz und die Interaktion können durch sie zwar verstärkt werden, doch entstehen sie nicht per se aufgrund der Hardware. Sie sind zuallererst ein Gemütszustand, ein state of mind.

Ein ähnliches Schicksal teilt der Bereich des Game-based Learning, von dem vor allem viele Bildungsforscher recht kurzsichtig zu denken scheinen, dass es die Lösung für Motivationsprobleme und ein neuer Ansatz für die Vermittlung von Faktenwissen sei. Daraus gehen verschiedene Studien zur Nutzung von Games in der Bildung hervor, die die Verwendung von beliebten Videospieleklassikern in verschiedenen Fächern untersuchen, sich aber recht oberflächlich mit den Spielen selbst beschäftigen und dabei all das ausblenden, was ein erfolgreiches Spiel auszeichnet und was die Faszination Spiel ausmacht (z.B. soziale und kompetenzorientierte Elemente in Multiplayer-Spielen). Dies resultiert beispielsweise im Einsatz eines beliebten Spiels wie Mario Kart Tour, um Themen wie Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik einzuleiten.

Dies zeigt deutlich, dass die Überschätzung der Technologie darauf basiert, dass ihr Motivationsmoment und der Wunsch, dem aktuellen Bildungssystem entsprechend Faktenwissen zu vermitteln, überproportional stark gewichtet werden, während die Kompetenzen, die durch das Spielen eines Spiels nachhaltig trainiert werden könnten, großflächig ignoriert werden. Doch sie sind es, die langfristig mit Blick auf die Zukunft eine positive Wirkung auf das Lernen  haben werden.

Credits: PetiteProf79 | Screenshot

Schließlich gilt Ähnliches auch für Künstliche Intelligenz, der man im Bildungsbereich momentan – wenn es sich überhaupt um KI und nicht um eine regelbasierte Programmierung handelt – vor allem Möglichkeiten im Bereich der Learning Analytics aus Sicht der Lehrkraft zuspricht. Ohne die komplexe Diskussion der Datenschutzbedenken zu berücksichtigen, die automatisch aufkommen, wenn man es mit einer Technologie zu tun hat, die große Datenmengen braucht wie der Mensch Sauerstoff zum leben, wird stark unterschätzt, wie sehr sie sich langfristig positiv auf das Lernen auswirken könnte.

Noch ist es nicht so weit, aber es wird meines Erachtens nicht mehr lange dauern, bis sich auch hier erst einmal Enttäuschung breit machen wird, da KI nicht alle Probleme, die wir im Bereich Bewertung und individuelle Förderung haben, lösen kann und zu viele detaillierte Auswertungen schlichtweg überfordern. Dass die wirklichen Potenziale von KI erst zur Entfaltung kommen, wenn wir uns von standardisierten Tests (summative assessment) befreien, sich die Rolle der Lehrkraft und ihre Haltung drastisch ändern und wir uns auf die sinnvolle Ausbildung und Evaluation von Kompetenzen und dem Lernprozess (formative assessment) zubewegen, scheint wenigen Menschen klar zu sein. Somit ist eine Abwendung von der Thematik in der Praxis vorprogrammiert, während der Begriff im Marketing weiterleben wird und gleichzeitig Spezialisten im Hintergrund weiter daran forschen werden (ähnlich wie in den allgemeinen KI-Wintern, wo KI massive Fortschritte in marginalen Bereichen wie Videospielen gemacht hat) bis zu dem Moment in der Zukunft, wo ein neuer Meilenstein erreicht sein wird und 99,9% aller Betroffenen aus allen Wolken fallen werden, weil sie mit diesen langfristigen Auswirkungen nicht im geringsten gerechnet hatten.

Außerhalb des Systems Schule und abgesehen von den Themen Extended Reality und Künstliche Intelligenz, die auch dort bedeutend sind, trifft Amaras Gesetz übrigens auch auf seit kurzem gehypte Themen wie das Metaverse, die Blockchain und NFTs zu, deren langfristigen positiven Auswirkungen wir uns heute nicht in den wildesten Träumen ausmalen könnten.

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